Jetzt ist schon wieder eine Alpenüberquerung passiert. Der Belz – das bin ich - und der Haas sind geradelt. Also der Fabian Haas, nicht der Wolf. Weil den Wolf mag man in Südtirol gar nicht. Also den Vierbeiner, nicht den Haas.
Der Belz die Reise akribisch vorbereitet und schon Anfang Jänner – zu Deutschland-Deutsch: Januar – die Fahrkarten gekauft. Und dann fast nichts geworden mit der Reise, weil ob du es glaubst oder nicht: Fahrkarte zu Hause vergessen. Und nichts digital. Aber der ICE zu spät und die Jule sehr schnell: in 2 Minuten ist sie an den Bahnhof geradelt und hat mir das Ticket gebracht. Jetzt kann die Reise losgehen. Ich hab alles dabei, was man für eine Alpenüberquerung mit dem Fahrrad braucht. Außer einem Fahrrad.
Also los geht's nach Bozen, das Fahrrad abholen. Über München nach Bozen fahren, um das Fahrrad nach München zu fahren. Klingt sinnvoll. Der ICE eine knappe halbe Stunde Verspätung, also nicht der Rede wert. Beim Aussteigen sehe ich das typisch deutsche Kleinkindabteil: Keine Rutschen oder spannenden Spielsachen wie in anderen Ländern, aber leckeres Bier.
In München hole ich mir
eine Anti-Allergikum als Gegengift zum Wespenstich und einen Kaffee als
Gegengift zum ermüdenden Anti-Allgergikum und ein Bananenbrot als
Gegengift zum magenversauernden Kaffee. Dann große Überraschung auf
Gleis 12: Der Zug hat eine Stunde Verspätung. Schwaben lieben Bahn
fahren: man kriegt jedes Mal Geld zurück. Der Belz am Hauptbahnhof, der
Haas am Ostbahnhof, aber es gibt ja Handys, da findet man sich schon
zusammen.
Begründung in der App: kurzfristiger Personalausfall.
Begründung laut Durchsage: verspätete Bereitstellung des Zuges.
Verspätung laut Durchsage: 1 Stunde. Verspätung laut App: 40 Minuten. Am
Ende hat die App Recht und es ist gut, dass wir den Bahnhof nicht
verlassen haben. Mit 40 Minuten Verspätung geht es sozusagen 20 Minuten
zu früh los. „Prossima fermata: Rosenheim“ klingt schon richtig nach
Italienurlaub.
Der Schaffner unterstützte bei der Fahrradverladung und beweist: humortechnisch sind wir schon in Österreich. Damit wir auch kulinarisch in Österreich ankommen, bestellen wir im Speisewagen Melange und Nusskipferl. Und siehe da: Kufstein. Jetzt sind wir auch physisch in Österreich. Und müssen uns unseren Platz zurückargumentieren.
Die Brennerbahn kann man noch weitere 100mal fahren, sie wird immer toll sein. Die Sillschlucht, der Blick auf die Europabrücke, die Schleife um St. Jodok und schließlich der Brennersee, der auf historischen Fotos echt schön aussieht. Bevor sie ihm die Autobahn ans Ufer gerotzt haben.
Sterzing, Franzensfeste, Brixen, Klausen, Bozen. Der Railjet macht das alles problemlos und komfortabel. Wir werden uns morgen mit dem Fahrrad in umgekehrter Richtung ganz schön quälen. Aber der Railjet fährt ja auch bergab.
Um 20.12 Uhr kommt der Zug in Bozen an, um 20:13 Uhr fährt der Anschlussbus. Ich kenne ja die Wege und hab noch frische Beine. Bus geschafft, nach dem Einsteigen erstaunt von der Großbaustelle Bozen, nach dem Aussteigen erfreut vom Anblick meines Gravelbikes, dass seit eineinhalb Monaten in Bozen auf mich wartet. Jetzt hab ich alles, was es für eine Alpenüberquerung braucht. Bevor morgen früh um fünf der Wecker klingelt, versacken wir aber erstmal bis fast Mitternacht mit Harald, Sophia, Mario, Moritz, Martina, Dani und den Kids im Biergarten vom Minigolfplatz.
Hundemüde steigen wir um 5:41 Uhr in Neumarkt auf die Fahrräder. In Bozen kommt die Sonne raus. Bei angenehmen Temperaturen geht es auf dem Bahntrassenweg durchs Eisacktal. Um 7:55 Uhr bleiben wir zum ersten Mal stehen. Wir haben schon 48 Kilometer zurückgelegt und freuen uns, dass der Coop in Waidbruck schon geöffnet hat. Zeit für das 2. Frühstück.
Eine Stunde später radeln wir durch Brixen. Dann fahren wir nach Vahrn. Dort klappt die Verabredung mit Sonja perfekt. Zeit für das 3. Frühstück. Aber Katastrophe: es gibt keine Gipfelen mehr. So sagt man in Südtirol, wenn man nicht Brioche oder Cornetto sagt. Croissant sagt hier niemand. Am Nachbartisch kriegt jemand ein Pistazien-Croissant, äh, Gipfele, aber es war das letzte. Wir müssen uns mit Buchweizentorte begnügen. Dabei verquatschen wir uns und schwelgen in alten Erinnerungen. Wie ich da so im Bistrogarten sitze, merke ich, dass ich doch ganz schön müde bin. Beim Radfahren fällt das nicht so auf. Also hilft nur eins: weiterfahren.
Zum 12-Uhr-Läuten der Samstagssirene sitzen wir in Stilfes - und essen schon wieder. Wir könnten den ganzen Shop leerkaufen. Haben ja aber mittlerweile auch schon 93 Kilometer und deutlich über 1.000 Höhenmeter zurückgelegt, da darf man schon wieder Hunger haben. Nach der Sirene die Kirchenglocken: die 1. Mittagspause ist sehr laut. Aber lecker.
Heute morgen um 6 waren wir weitgehend alleine unterwegs, mittlerweile füllt sich der Radweg. Bevor es uns im Wipptal noch zu voll wird, biegen wir kurz vor Sterzing ab ins Pfitschtal. Pssst, nicht verraten, das Pfitscher Tal ist ein Geheimtipp. Ganz kurz ist die Straße entspannt flach, dann 400 steile Höhenmeter auf einen Schlag. Ich hebe mir einen Puls von über 160 für später auf und lasse Fabian ziehen. Ich spüre den wenigen Schlaf und vermutlich auch das Bier von gestern Abend in den Beinen, mein Tritt wird schwerfälliger. Aber es macht weiterhin richtig Spaß. Für das Meistern der 400-Höhenmeter-Schwelle (Nebengletscher und Hauptgletscher und so) werden wir oben im Talboden mit Rückenwind belohnt.
14:02 Uhr: Wir sitzen vor dem Wasserfall, beobachten das Wasser und stellen fest, dass wir beide müde werden. Wie passend, dass wir jetzt die Passauffahrt vor uns haben. 1.700 Höhenmeter haben wir schon, gut 800 müssen wir noch. Es geht gleich steil los, und schon nach wenigen Kurven endet der Asphalt. Kurbelumdrehung für Kurbelumdrehung trete ich das Gravelbike über den Gravel bergan.
An einem Bach füllen wir die Flaschen auf. Hier steht ein Fahrverbotsschild, aber uns ist eh schon länger nichts motorisiertes mehr begegnet. Fabian packt die Peakfindet-App aus. Das Ergebnis: Im Vordergrund sieht man den Hochferner nicht, im Hintergrund sieht man den Hochfeiler nicht. Eine Wandererin bietet an, ein Foto von uns zu machen. Jetzt sind es bis hoch zum Pfitscher Joch noch so viele hundert Höhenmeter, wie wir heute Nacht Stunden Schlaf hatten: 4,5.
Um 16:15 Uhr haben wir es geschafft, wir erreichen das Pfitscher Joch Haus. 2.276 Meter über dem Meer, 2.062 Meter über Neumarkt. Der Schlussanstieg war nochmal richtig steil und wenig griffig. Aber ich hab es geschafft! Fabian hat es sogar vor dem Shuttlebus geschafft, der hier zweimal täglich hochfährt. Seit wir 700 Höhenmeter weiter unten den Busfahrplan gesehen hatten, wussten wir, was unsere Challenge ist.
Fabian ist jetzt endlich auch mal ein bisschen erschöpft, aber so schwer wie ich hat er sich nicht getan bei der Auffahrt. Ich bin zwar heuer deutlich mehr Fahrrad gefahren als Fabian, aber Fabians ultimativer Vorteil: seit er Vater ist, trainiert er intensiv Schlafmangel. Damit kommt er besser klar als ich.
Die Abfahrt beginnt mit der großen
Unbekannten in der Tourenplanung: sind die nächsten 6 Kilometer
befahrbar? Die überraschende Antwort: größtenteils ja. Wir quälen unsere
Gravelbikes über Kies und Steinplatten abwärts. Eine Herausforderung
für Mensch und Maschine, umrahmt von der schönsten Landschaft des Tages.
Erstaunlicherweise sehen wir auf dem gesamten Traumpfad nicht einen
einzigen anderen Zweibeiner. Viel Grauvieh und Fleckzieh, aber kein
Knickerbockervieh oder Outdoorjackenvieh. Allerdings verwandele ich mich
in ein Regenjackenvieh: die angekündigten Gewitter verschonen uns, aber
jetzt werden wir doch ein bisschen nass. Nachdem es völlig überraschend
heute früh in Neumarkt ein paar Regentropfen gab, kann man das hier
jetzt wirklich Regen nennen.
Ab dem Stausee - von dem wir einen tollen Blick auf die Restvergletscherung der Zillertaler Bergwelt genießen - rauschen wir auf einer Asphaltstraße bergab - und auf was für einer! Teilweise ampelgesteuert auf einspuriger Straße durch schmale Tunnels, zwei schöne Serpentinengruppen, unterwegs Blicke auf die beeindruckende Staumauer und die umliegenden Berge. Herrlich!
Wir entscheiden uns, das Abfahrtsvergnügen acht Kilometer vor der Unterkunft zu unterbrechen und einzukehren. In dem Kaff, in dem wir übernachten, gibt es nur einen Gastronomiebetrieb. Wenn der geschlossen ist, haben wir ein Problem in Form von mehreren hundert Höhenmetern. Außerdem hoffen wir, dass der Regen später aufgehört haben wird.
Wenn man aus dem Norden nach Tirol kommt, ist die Freude immer groß. Weil: endlich Berge. Wenn man aus dem Süden nach Tirol kommt, ist die Enttäuschung immer groß. Weil: schlechtes Wetter und Unfreundlichkeit gegenüber Ausländern. Vor allem wenn sie wie ich aus Deutschland kommen. Die Kellnerinnen im Gasthof sind unfreundlich. Als wir rauskommen, schüttet es. Wir sind aus dem Süden nach Tirol gekommen.
Die letzten 8 Kilometer sind unschön, weil patschnass. Aber Petrus hat noch mehr auf Lager: Gleich nach dem Check-In geht das Gewitter richtig los. Gut, dass wir nicht mehr draußen nass werden, sondern unter der warmen Dusche. Abtrocknen muss ich mich mit meinem Merinoshirt, im "Backyard Mountain" gibt es keine Handtücher. Trotzdem ein sympathisches Hostel.
153 Kilometer und 2.588 Höhenmeter sind es am ersten Tag geworden. Morgen geht's weiter. Weil: Alpenhauptkamm ist zwar überquert, aber wir hatten vorher München als Zielort definiert.
Der zweite Fahrradtag startet um 6:57 Uhr. Frühstück und Kaffee gibt es erst nach 10 Kilometern Abfahrt in Mayrhofen. Besonders schön auf der Abfahrt sind die Tunnel. Weil: da ist es ein bisschen wärmer und es spritzt kein Wasser von der Straße hoch. Also nicht dass du glaubst, dass ich immer gerne Tunnel fahren. Ganz und gar nicht. Weil: Klaustrophobie. Aber heute: topp.
Der erste Ort ist Finkenberg. Bekannt vom Finkenberg-Open Air der Zillertaler Schürzenjäger. Jugendsünde. Also nicht dass du denkst, dass ich schonmal in Finkenberg war. Aber Live-CD und Discman zur Kommunion bekommen. Schockierend. Aber der Discman: Anti-Schock.
Ankunft Mayrhofen, Drehort und tagtäglicher Schauplatz der Piefke-Saga. Wir bestellen beide genau das gleiche (Brezel, Schokocroissant – ja, jetzt darf man wieder Croissant sagen – und Cappuccino). Und merken erst später am Tisch, dass es auch eine Frühstückskarte gegeben hätte. Also zumindest noch drei Spiegeleier mit Speck nachbestellt. Muss man ja ausnutzen, wenn es schonmal eine Frühstückskarte gibt.
Die weitere Route führt uns durch das
Zillertal hinaus ins Inntal. Unterwegs holen wir die Zillertalbahn ein
und überholen sie, aber am Ende gewinnt sie das Rennen doch. Der
Rennradfahrer zieht uns ein paar Kilometer, dann zieht er davon. Schnell
und einfach erledigen wir die ersten 45 Kilometer und sind um 9:37 Uhr
schon in Brixlegg. Jetzt geht es zum ersten Mal heute bergauf, und das
nicht zu wenig.
Gut, dass uns auf der Komoot-Karte aufgefallen war, dass es einen Taleinschnitt von Brixlegg nach Norden gibt. Also mal das da ausprobieren, nicht schon wieder Achensee, und erst recht nicht das langweilige Inntal. Siehe da: das Tal der Brandenberger Ache ist wunderschön. Der Bach rauscht unten im Loch, wir folgen ihm im Auf und Ab - anfangs auf Asphalt, ab Aschau auf Schotter - an den seitlichen Hängen. Nach einem garstigen 130-Höhenmeter-Anstieg und der folgenden Abfahrt kommen wir direkt an den Bach und können die Füße abkühlen.
Die Nüsse am Bachufer haben nichts geholfen: ich brauche was zu Essen. Dringend. Ich bin dermaßen unterzuckert, dass ich fast anfange zu zittern. Aber wir sind ja bald an der Erzherzog-Johann-Klause. Die Fatamorgana eines Apfelstrudels mit Vanillesauce lässt mich überleben. Ich zähle erst die Kilometer runter, dann die Meter. Noch ein letzter steiler Kiespfad, dann stehen wir endlich vor der Erzherzog-Johann-Klause.
Sie ist vorübergehend geschlossen.
Also Riegel und Cola reindrücken, Mund abwischen, weiter geht's. Und zwar 300 Höhenmeter auf einem steilen Schotterweg. Der Rucksack-Rücken schmerzt dermaßen, dass ich von den Beinen gar nichts spüre. Schon praktisch, so ein Rucksack. Aber ich werde nie wieder eine Alpenüberquerung mit Rucksack machen.
Völlig ohne es zu merken, überqueren wir die Grenze nach Bayern. Wenn das Alexander Dobrindt wüsste. Am Forsthaus Valepp erstmal den Rücken dehnen. Der Schuppen gehört Manuel Neuer, die Speisekarte passt nicht zu unserem Budget. Also verschieben wir die Mittagseinkehr auf den Spitzingsattel.
Mit
Ankunft an der Spitzingalm ertönt der erste Donnerknall. Das ist ja mal
ein Timing. Wir retten uns in die Hütte, bestellen Gulasch bzw.
Schweinebraten und schauen dem Gewitter beim Blitzen und Regnen zu.
Den Spitzingsattel geht es steil runter, es nieselt nur noch leicht. Weiter geht’s Am schönen Schliersee entlang und im flotten Flow nach Miesbach und durchs Mangfalltal. Nach dem letzten Anstieg des Tages gibt es zur Belohnung ein Magnum Mandel an der Baustelle vor der Araltankstelle. Wie romantisch. Die Tankstelle steht am Ortseingang von Holzkirchen, es sind noch 38 Kilometer bis München.
Gleich nach Holzkirchen
fängt es an zu regnen, den Rest der Tour bestreiten wir in
Regenkleidung. Aber mit Rückenwind. Ab der Kugleralm rauschen wir über
die Rennradautobahn durch den Perlacher Forst, danach ist die bayerische
Hauptstadt erreicht. Ein letztes Selfie an der Säbener Straße, eine
letzte Banane - und eine warme Dusche - bei Fabian und Nina in Giesing,
dann noch 5 Kilometer bis zum Hauptbahnhof. Geschafft! 156 Kilometer und
1.557 Höhenmeter waren es heute. Unsere dritte Alpenüberquerung in drei
Jahren, wir haben das Hattrick geschafft. Apropos drei: wenn ich drei
meiner Radtouren zusammenzähle, bin ich dieses Jahr in 4 Tagen von
Mannheim bis ins Südtiroler Unterland geradelt. Nicht schlecht. Apropos
Südtiroler Unterland: Nächstes Jahr wird hoffentlich schon wieder eine
Alpenüberquerung passieren.