Sonntag, 17. März 2024

Erbeskopf - im 2. Anlauf auf den höchsten Gipfel von Rheinland-Pfalz

 

Der Busfahrer der Nationalparklinie 890 schaut mein Deutschlandticket sehr kritisch an. Es scheint im Hunsrück nicht sehr verbreitet zu sein. Er hört SWR1; Sting und Depeche Mode dröhnen aus dem Busradio. Der zugedröhnte Punk links vor mir pfeift mit. Volle Dröhnung strukturschwacher ländlicher Raum, innen wie außen.

Mein Vorhaben heute: Auf den höchsten Gipfel von Rheinland-Pfalz wandern, den Erbeskopf. Bei meinem ersten Versuch bin ich ja dann doch nach Freiburg abgebogen, heute will ich es durchziehen. Deshalb bin ich schon um 5 Uhr irgendwas in Esslingen gestartet. Im Neckartal hat man vor lauter Lärmschutzwand den Nebel nicht gesehen. Oder war es umgekehrt? Egal, ich war erst ab dem Umstieg in Mannheim zurechnungsfähig, vorher hatte ich auf Kaffee verzichtet und Schlaf nachgeholt. Nach weiteren Umstiegen in Homburg (Saar) und Neunkirchen (Saar) hat mich die Bahn bis Neubrücke (Nahe) gebracht, von da geht es mit Bus 890 in und durch den Nationalpark Hunsrück.


Nach einer seltsamen Schleifenfahrt über den Parkplatz kommt der Bus am Nationalparkhaus Erbeskopf an. Ich verabschiede mich vom SWR1-Busfahrer und bestaune diesen wundersamen Ort in einer besucherarmen Zwischenzeit. Skilifte, Skipisten und Après-Ski-Hütten werden mangels Schnee nicht mehr genutzt. Wanderwege, Sommerrodelbahn und Kletterwald werden mangels Sonne noch nicht wieder genutzt. Nur ein paar andere Menschen haben sich heute hierher verirrt. Der Bus fährt leer weiter nach Rhaunen. Wo auch immer das liegt.

Der Anstieg auf den Erbeskopf ist schnell gemeistert. Zwischen den beiden Skipisten gibt es einen überraschend hübschen Wurzelpfad. Oben angekommen erblicke ich ein schönes begehbares Aussichtspunt-Kunstwerk mit integriertem Standesamt – und einen Busparkplatz. Rauchende Rentnerinnen stolpern mir entgegen und wundern sich vermutlich, warum ich außer Atem bin.
Ich erklimme noch den Holzturm, informiere mich über die militärische Vergangenheit des Gipfelplateaus und mache ein paar Fotos vom Panoramablick, dann verlasse ich den Nikotingestank und flüchte mich in die frische Waldluft. Die "Traumschleife Gipfelrauschen" entwickelt sich nun wirklich zu einem Traum, ich rausche die 7 km lange Schleife über Stock und Stein und Wurzeln und sogar einen Holzbohlenweg am Hangmoor zügig entlang. So zügig, dass ich mich zurück am Nationalparkhaus freue, ein Wechseloberteil eingepackt zu haben.







 
Ich nutze die (saubere und kostenlose!) Toilette als Umkleidekabine und werfe noch einen Blick in das Bistro im Nationalparkhaus. Ich entscheide mich aber dafür, nicht hier Mittag zu essen, sondern einen früheren Bus zu nehmen und noch einen Schlenker über Idar-Oberstein zu fahren. Geographen fahren ja ungern den selben Weg zurück...

Die große Überraschung: Der Bus ist ein Doppelstockbus! Das Obergeschoss ist noch leer, ich sichere mir einen Platz in der 1. Reihe. Unterwegs bemitleide ich die entgegenkommenden Autofahrer, die kaum Aussicht haben. Was für eine tolle Panoramafahrt durch den Hunsrück ich hingegen genieße! Es war eine sehr gute Entscheidung, den früheren Bus zu nehmen. 


Die Endophin-Ausschüttung endet in Idar-Oberstein. Die Doppelstadt ist doppelt ernüchternd: erstens, weil ich den bequemen Bus verlassen muss, zweitens, weil die Stadt so abgefuckt ist. Wenn es um die Armenhäuser der Republik geht, denkt man immer zuerst an den Osten, erst in zweiter Linie an die Altindustrieregionen Ruhrgebiet und Saarland. Aber wie fertig weite Teile von Rheinland-Pfalz sind, hat man nicht auf dem Schirm. Tragisch für diese Regionen, dass sie sogar bei negativen Berichterstattungen vergessen werden.

Letzte Woche haben wir im Kino “The Old Oak” gesehen. Der Film wurde in einem heruntergekommenen Bergarbeiterstädtchen in Nordengland gedreht. Man hätte ihn auch in Idar-Oberstein drehen können.

Für mich als Besucher und noch mehr für mich als Stadtgeograph ist das hier schon spannend. Aber hier leben? Nein Danke. Das machen scheinbar nur diejenigen gerne, die hier verwurzelt sind. Und die waren hier schon verwurzelt, als es noch gut bezahlte Arbeitsplätze bei Industrie und Militär gab; als die großen Warenhäuser noch geöffnet waren; und als Edelsteine aus Idar-Oberstein scheinbar ein boomendes Business waren. Heute fährt der Doppelstockbus an zahlreichen geschlossenen Rollläden vorbei, die gefühlte Leerstandsquote liegt bei 50 %. Rund um den Bahnhof schaffe ich es an diesem Sonntagmittag nicht, etwas ess- oder trinkbares zu finden. Für Freunde von Lost Places ist Idar-Oberstein ein Eldorado. Mit allen anderen habe ich Mitleid. Wie traurig, dass der Kapitalismus sich in Deutschland nur auf einige Ballungszentren fokussiert, in denen Normalmenschen sich folglich die Mieten nicht mehr leisten können, während weite Landstriche unserer schönen Republik irgendwie vergessen wurden. Mit den bekannten Ergebnissen, auch bei Wahlen. Niedrige Mieten helfen da auch nicht mehr.

Genug über den Leerstand sinniert und meine mitgebrachten Käsebrote verspeist. Mund abwischen, weiterfahren: Mit dem Regionalexpress nach Saarbrücken. Weil die Strecke nach Kaiserslautern gesperrt ist, führt der schnellste Rückweg nach Baden-Württemberg über das Saarland. Da fällt mir ein: Es gab vor der Abfahrt in Esslingen heute Morgen zwei Bahnstrecken im Saarland (mit regulärem Personenverkehr), die ich noch nie gefahren bin: Homburg - Neunkirchen und Gennweiler - Saarbrücken. Erstere bin ich heute Morgen auf dem Hinweg gefahren. Zweitere in den Rückweg einzubauen gibt der Fahrplan leider nicht her.

Aber es gibt da ja einen Trick, mit dem man Bahnfahrten deutlich beschleunigen kann: indem man unmögliche Umstiege möglich macht. Mein klassische Beispiel ist die Fahrt von Karlsruhe in meinen Wohnort Esslingen: der DB Navigator rechnet in Stuttgart Hbf mit einer längeren Umsteigezeit (wie lange genau, wird seit dem letzten Update der App nicht mehr angezeigt). Die Verbindungsauskunft von Karlsruhe nach Esslingen würde einen Anschlusszug, der fünf Minuten nach der planmäßigen Ankunft in Stuttgart startet, nicht anzeigen. Wenn man sich im Zug weit vorne und früh an der Tür positioniert (und der Zug ausnahmsweise pünktlich ankommt), kann man das aber schaffen. Also immer getrennte Verbindungsauskunft (erst Karlsruhe - Stuttgart, dann Stuttgart - Esslingen) probieren, wenn einem die Umsteigezeit zu lange vorkommt.

Meine Planankunft in Saarbrücken war um 15.10 Uhr auf Gleis 1. Natürlich zeigt mir der DB Navigator den Zug nach Gennweiler, der um 15:09 Uhr auf Gleis 11 abfahren soll, nicht als Anschluss an. Aber mein Zug kommt drei Minuten zu früh an! Und so sitze ich jetzt leicht außer Atem im vlexx Richtung Lebach-Jebach, genieße die schöne Landschaft und freue mich, dass ich es mit dieser Hartnäckigkeit (und schnellen Sprints durch Bahnsteigunterführungen) wirklich irgendwann bald geschafft haben werde, alle Bahnstrecken in Deutschland gefahren zu sein.

Aber es bleibt ein zähes Unterfangen, selbst im Saarland: auf der Streckenkarte entdecke ich, dass die letzten drei Stationen der Bahnstrecke Trier - Perl, die ich noch nie gefahren bin, nicht mehr in Rheinland-Pfalz, sondern im Saarland liegen. Ich kann jetzt also behaupten, dass ich mal auf dem höchsten Gipfel von Rheinland-Pfalz war, aber ich kann immer noch nicht behaupten, dass ich sämtliche Bahnstrecken im Saarland gefahren bin.

Am Bahnhof Gennweiler muss ich umsteigen. Um 15:31 Uhr komme ich auf Gleis 40 an, um 15:37 Uhr geht es ebenfalls auf Gleis 40 weiter Richtung Homburg. Der Bahnhof Gennweiler ist so groß, dass er 40 Gleise hat? Nein, es sind genau zwei Gleise. Das andere heißt Gleis 50. Warum, kann mir auch das Internet auf die Schnelle nicht erklären. 

Auf der Rückfahrt über Homburg und Landau denke ich darüber nach, was heute die lustigste und aggressivste Zugdurchsage war. "Wenn Sie dann endlich mal aus dem Türbereich rausgegangen sind, kann der Zug auch abfahren!" in super aggressivem Sächsisch landet auf Platz 3. Die Aggressivität war völlig unnötig, weil der Zug Kaiserslautern trotzdem pünktlich verlassen hat. “Rein oder raus, verdammt nochmal, sonst komm ich!” ist mein Platz 2. Das war schon eine lustige Drohung. Um 6:02 Uhr am Stuttgarter Hauptbahnhof habe ich auch vollstes Verständnis für übertriebene Aggressivität. Meine Liebslings-Durchsage heute kam von der selben SWEG-Schaffnerin: “Wir erreichen jetzt gleich Ludwigsburg, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts." - "Ich korrigiere: Ausstieg in Fahrtrichtung links." - "DER FAHRDIENSTLEISTER SCHEINT GANZ WITZIG. AUSSTIEG RECHTS!!!" Ich hoffe, sie hat ihren restlichen Arbeitstag ohne Halsschmerzen überstanden.

Ich habe meine restliche Heimfahrt problemlos überstanden. Zum Abschluss des Tages gönne ich mir noch den Aufpreis für den TGV, der von Karlsruhe direkt nach Esslingen fährt. Ohne Umsteigen in der Großbaustelle namens Stuttgart Hauptbahnhof, die derzeit auch vom TGV nicht angefahren werden kann. Und mit leckerem französischen Espresso. Nein, das Deutschlandticket führt irgendwie nicht dazu, dass ich weniger Geld für Bahntickets ausgebe... aber es führt dazu, dass ich richtig tolle Tagesausflüge mache. Und mich dem Ziel nähere, irgendwann auf allen 16 höchsten Bundesland-Gipfeln gestanden zu haben. Und alle deutschen Bahnstrecken gefahren zu sein.




Diesen Text habe ich zuerst auf https://bahnstreckensammler.blogspot.com/ gepostet.