Donnerstag, 23. Juni 2022

Karl May

Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah. So lautet der vollständige Name von „Hadschi Halef Omar“. Das weiß ich noch immer. Das wusste ich auch als etwa zehnjähriger Junge, als ich mit meinem Opa auf der Frankfurter Buchmesse war – und habe am Stand des Karl-May-Verlags deshalb eine Winnetou-Sonderbriefmarke gewonnen. Der Stand des Karl-May-Verlags war mein alljährliches Highlight auf der Frankfurter Buchmesse. Obwohl Karl May seit 1912 tot ist (auch das weiß ich noch auswendig, warum auch immer), hat es der Karl-May-Verlag Anfang der 2000er fertiggebracht, jedes Jahr ein neues Buch der berühmten grünen Reihe „Karl May’s Gesammelte Werke“ herauszugeben. 1912 gab es 35 Gesammelte Werke, heute sind es 96 (wenngleich es mittlerweile „Gesammelte Werke und Briefe“ sind). 

Karl May

Mein Opa hat Karl May gelesen. Mein Vater hat Karl May gelesen. Ich habe mein erstes Karl-May-Buch in der 2. Klasse gelesen, es war „Durchs Wilde Kurdistan“, Band 2 der Gesammelten Werke. Warum ich damals nicht mit Band 1 („Durch die Wüste“) begonnen habe, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Ich weiß auch nicht mehr, wie viele der Bücher ich damals verschlungen habe. Mehr als 10 definitiv, vermutlich mehr als 20, vielleicht auch 30. Meine Favoriten waren im Übrigen nicht die bekannten Winnetou-Bücher, sondern die mehrbändigen früheren Kolportageromane wie „Waldröschen“ und „Die Liebe des Ulanen“ (Gesammelte Werke, Band 51-55 bzw. 56-59), die die Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts lebendig machen. Karl-May-Bücher spielen auf der ganzen Welt, nicht nur im Wilden Westen. Wobei der Wilde Westen, den Karl May im Kopf hatte, stark an Sachsen erinnert. Während der Wilde Westen, den wir heute im Kopf haben, eher wie Jugoslawien/Kroatien aussieht – dort wurden die bekannten Verfilmungen mit Pierre Brice und Lex Barker gedreht. Wer hat da nicht alles mitgespielt, von Mario Adorf über Götz George und Heinz Erhardt bis zum späteren Terence Hill, der damals noch Mario Girotti hieß.

Hier wurde der Schatz im Silbersee gedreht, das Foto ist bei unserer Radreise 2019 entstanden.


Als die Karl-May-Persiflage „Der Schuh des Manitu“ 2001 im Kino lief, war meine Karl-May-Lesezeit schon vorbei. Anfang der 2000er habe ich Sven Regener, Florian Illies und Wladimir Kaminer gelesen. Herr Lehmann und Russendisco statt Sam Hawkins im Saloon. Aus der „Jugendliteratur“ Karl May war ich scheinbar hinausgewachsen, so wie andere irgendwann aus dem Harry Potter-Alter rausgewachsen sind.

Dann kam der Juni 2022. Meine Reise mit dem 9-Euro-Ticket durch Sachsen. Der Zwischenhalt in Karl Mays Geburtsort Hohenstein-Ernstthal erinnerte mich an die Bücher meiner Jugend. In der Kulturstadt Dresden hätte ich in den Tagen danach das Grüne Gewölbe besichtigen können, das Albertinum, das Militärhistorische Museum der Bundeswehr oder das Verkehrsmuseum. Bestimmt alles interessante Museen, in denen ich noch nie war. Aber was habe ich gemacht? Bin in die Karl-May-Straße nach Radebeul gefahren. Ins Karl-May-Museum. Bei einem Familienurlaub Mitte der 90er war ich da schon mal. Warum nicht in alten Erinnerungen schwelgen?

 

Karl-May-Straße in Radebeul

Das Museum empfängt heute mit Fahrradständern („hier können Sie Ihren Drahtesel anbinden“) und wurde an den woken Zeitgeist angepasst, der „Indianer“ völlig zu Recht in Gänsefüßchen setzt. Ich staune und lese mich durch das Museum und den zugehörigen Park, in dem unter anderem das größte Karl-May-Buch der Welt steht. 

 

„Hier können Sie Ihren Drahtesel anbinden.“

Das größte Karl-May-Buch der Welt

Spätestens bei der Hinweistafel, dass sich das Spätwerk Mays „zunehmend mit pazifistischen Themen rund um Völkerverständigung, kulturelles Verständnis und Toleranz“ beschäftigte, kriege ich Lust, mal wieder Karl May zu lesen – vielleicht ja mal was aus dem Spätwerk, z.B. Winnetou 4 (doch, das gibt es; der Karl-May-Verlag nennt es „Winnetous Erben“). Meine Erinnerung sagt mir: nicht nur das Spätwerk hat sich mit diesen Themen beschäftigt! In den Büchern Karl Mays, die ich in meiner Jugendzeit gelesen habe, habe ich viel gelernt über die notwendige Toleranz anderen Menschen und Religionen gegenüber, über das Hinterfragen der angeblichen Überlegenheit der eigenen Hautfarbe und natürlich auch über fremde Länder und Völker – auch wenn Karl May die ebenfalls nur aus Büchern und Erzählungen kannte.

Ich bekomme also Lust, mal wieder was von Karl May zu lesen. Kein Problem, bei meinen Eltern im Keller steht ja noch die ganze Büchersammlung. Den Museumsshop kann ich ignorieren, Karl May hat in den letzten 20 Jahren keine Bücher veröffentlicht, die mich brennend interessieren würden. Dachte ich mir, bis ich dann doch Buchrücken für Buchrücken eruiere, was es an alles an Literatur von und über Karl May gibt. Und was entdecke ich da? „Unter Volldampf – Abenteuergeschichten rund um die Eisenbahn“. Der Buchrücken erklärt: „Karl May war vom Mythos Eisenbahn fasziniert. Daher mangelt es den Schauplätzen seiner Fantasie nicht an packenden Eisenbahnszenen, sei es im heimatlichen Deutschland, in Nordamerika oder auch auf dem Balkan.“

Es dämmert mir, dass sich Winnetou und Old Shatterhand beim Eisenbahnbau kennengelernt haben. Dass auch die Verfilmungen – egal ob mit Pierre Brice oder mit Bully Herbig – nicht ohne Dampfloks auskamen. Und dem Eisenbahnfreund und Ex-Karl-May-Leser in mir wird klar: Ich muss dieses Buch haben! 

Ein tolles Buch!

Ich habe es gekauft. Und innerhalb einer Woche verschlungen. Die freudige Erkenntnis: Karl May ist gut gealtert. Wenn man darüber hinwegsehen kann, dass im Buch von „Negern“ (ohne Gänsefüßchen) die Rede ist und Chinesen rassistisch beleidigt werden, dann ist Karl May auch heute noch lesenswert. Spannend, unterhaltsam, lehrreich.

Im September reise ich mit meiner Freundin nach Griechenland. Durch die Schluchten des Balkan und vorbei am Land der Skipetaren. Also vorbei an Schauplätzen des „Orientzyklus“ (Gesammelte Werke, Band 1-6). Ich habe eine Vermutung, welche Urlaubslektüre ich im September einpacken werde. Die Protagonisten wären dann nicht Winnetou und Old Shatterhand, sondern Kar Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar. Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.