Sonntag, 4. Dezember 2022

Radreise Großbritannien 2022: Von Land's End in die Quarantäne

Die Radreisen von Wolfgang und mir wurden von Jahr zu Jahr länger: irgendwann sind wir mit einem verlängerten Wochenende auf dem Rennsteig-Radweg gestartet, 2017 ging es dann schon von Venedig nach Rom. 2018 haben wir die Rhone von der Quelle bis zur Mündung begleitet, 2019 sind wir von Zagreb nach Bozen gefahren. Für 2020 hatten wir uns dann etwas ganz besonderes vorgenommen: Großritannien End to End, von Land's End in Südwestcornwall bis John o' Groats in Nordostschottland. Es kam bekanntlich anders, Auslandsreisen waren in der Hochphase der Pandemie schwierig. Wir haben die Fährtickets auf 2021 umgebucht und uns einen Plan B ausgedacht: Deutschland End to End, von Sylt nach Oberstdorf. Doch auch 2021 hat uns Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht, die Fährtickets wurden auf 2022 umgebucht und wir brauchten einen neuen Plan B: Österreich End to End, vom Bodensee zum Neusiedler See. 

Dieses Jahr war es dann endlich so weit: Taschen packen, mit dem Zug nach Rotterdam, mit der Fähre nach Harwich, mit dem Fahrrad quer durch London und in Penzance die Radreise gestartet. Eine abendliche Schleife nach Land's End, am nächsten Morgen ging es dann richtig los: Im Linksverkehr durch Rosamunde-Pilcher-Land, mit steilen Anstiegen, rasanten Abfahrten und wunderbaren Bahntrassenradwegen. Bis die ersten Erkältungssymptome kamen. Nach drei Tagen war klar: Covid. Quarantäne. Abbruch. End to end wird wieder nichts. Den Great Britain Pechvogel Award verleihen wir uns in einem Einzimmer-Airbnb in Barnstaple, in dem man nicht mal aus dem Fenster schauen kann.

Immerhin 358 Kilometer (inklusive Rotterdam - Hoek van Holland und London) und 3.983 Höhenmeter haben wir vor der Quarantäne geschafft. Aber es ist noch ein langer Weg bis Nordostschottland... den werden wir dann nächstes Jahr erneut versuchen. Wir freuen uns jetzt schon so lange auf diese Tour, da macht es das eine Jahr mehr oder weniger jetzt auch nicht mehr aus...

Das beschriftete Fotoalbum der diesjährigen Kurzreise findet ihr hier

 


 



Donnerstag, 20. Oktober 2022

Eisenbahn in Griechenland: Peloponnes

 Einführung


Einst gab es auf dem Peloponnes ein großes Schmalspur-Eisenbahnnetz. Davon sind noch einzelne Überbleibsel erhalten:

  • In Nafplion erinnert eine Dampflok mit ein paar Waggons an die frühere Strecke aus Korinth. 

  • In Kalamata stehen im „Municipal Railway Park“ am alten Hafenbahnhof einige Lokomotiven und Waggons, das Bahngleis verwandelt sich aber schon nach wenigen Metern in einen Fahrradweg. 

  • Alte Gleise – teilweise kurz vor der Betriebseinstellung 2011 frisch saniert – erinnern an die alten Bahnstrecken aus Korinth und Patras nach Kalamata.

Die Hauptstrecke aus Athen über Korinth nach Patras ist mittlerweile bis Kiato normalspurig ausgebaut und elektrifiziert; von Katio über Diakopto weiter bis Egio fehlt noch die Oberleitung, hier fährt mehrmals täglich ein normalspuriger Dieseltriebwagen; zwischen Egio und Patras fehlt noch alles: Das alte Schnalspurgleis ist schon weg, aber das neue Normalspurgleis wurde noch nicht verlegt.


Abgesehen von dieser normalspurigen Hauptstrecke gibt es drei Schmalspurbahnen, die heute noch in Betrieb sind:

  • Katakolo – Pyrgos – Olympia, die Strecke dient vor allem Touristen auf dem Weg zu den Ausgrabungsstätten von Olympia
  • Kato Achea – Patras – Rio, die im Stundentakt von Dieseltriebwagen befahrene Strecke ist sozusagen die S-Bahn von Patras 
  • Diakopto – Kalafryta, die Zahnradbahn ins Gebirge ist eine bekannte Touristenattraktion – und zugleich ein Wanderweg.

Wenig überraschend wollte ich auf unserer Peloponnes-Reise alle drei Strecken fahren. Hab ich auch gemacht:  

Katakolo - Olympia

Mit großer Vorfreude auf die anstehende Bahnfahrt kommen wir in Katakolo an, wo einmal pro Tag ein Zug nach Olympia fährt. Aber die große Enttäuschung: der Bahnhof ist völlig verwaist, der Fahrkartenschalter ist geschlossen, der Zug fährt scheinbar nicht. Am Fahrplanaushang steht „* Train itinerariers that are scheduled only during the days with cruise ship arrival.” Keine Ahnung, worauf sich das “*” bezieht, aber wahrscheinlich fährt der Zug heute nicht, weil kein Kreuzfahrtschiff ankommt.

Etwas frustriert trinken wir einen Kaffee an der Hafenpromenade, als es am Horizont plötzlich hupt. Und nochmal. Und nochmal. Das wird doch nicht – doch, das ist er! Der Zug! Ein schmalspuriger Stadler-Triebwagen quietscht in den Bahnhof. Er fährt also doch. Ein Ticket kann man bei der freundlichen Schaffnerin kaufen. Ein paar andere Fahrgäste steigen ebenfalls in den bequemen, aber stinkenden Zug, der sich pünktlich um 8:40 Uhr in Bewegung setzt.

Mit 30 km/h schaukeln wir durch die Vorgärten von Katakolo. An einem unbeschrankten Bahnübergang bleiben wir plötzlich stehen. Und öffnen die Türen. Tatsächlich: Das ist eine Haltestelle mit kleinem Bahnsteig. Zwei alte Männer steigen ein. Weiter geht's. Draußen Felder, die nach Frühnebel aussehen, aber nach illegaler Müllverbrennung riechen.

Auf dem weiteren Weg nach Pyrgos beschleunigt der Zug auf 65 km/h. Pyrgos ist der Betriebsmittelpunkt, hier gibt es auch ein kleines Depot. Früher war hier der Kreuzungsbahnhof mit der Hauptstrecke nach Patras und Kalamata, die seit 2011 außer Betrieb ist. Heute gibt es nur noch den Inselbetrieb Katakolo - Olympia. Rund um den Bahnhof zeugen verschiedene Fahrzeuge in unterschiedlich desolatem Zustand, dass hier einmal mehr los war.

Hinter Pyrgos zeigt das GPS-Gerät 75 km/h. Wirklich bequem ist das nicht auf den abgefahrenen Gleisen. Der Zug schaukelt und knarzt. Aber er macht das ja fast jeden Tag, da wird es auch heute ohne Entgleisung klappen.

Der Lokführer raucht gemütlich an seinem Zigarillo, während er den Triebwagen durch eine fruchtbare Ebene voller Oliven- und Obstbäume schaukelt. Müpp-Müpp-Müüüp tönt es immer mal wieder von vorne, wenn der Zug kleine Feldwege quert. Immer wieder queren wir Bewässerungskanäle. Der Regen aus den Bergen wird in der trockenen Ebene verteilt.

Der Bahnhof in Olympia liegt sehr praktisch neben dem Ortszentrum und nicht weit von der bekannten Ausgrabungsstätte. Wir haben gut dreieinhalb Stunden Zeit, um uns diese anzuschauen, um 13:10 Uhr fährt der letzte Zug zurück. Die Schaffnerin erklärt den Fahrplan mit dem Klimawandel: Nachmittags ist es in Olympia mittlerweile schlicht und ergreifend zu heiß, um sich dort die Ausgrabungsstätte anzuschauen. Da lässt es sich im klimatisierten Zug deutlich besser aushalten.


Patras Suburban Railway

Das Bahnhofsgebäude schaut sehr mitgenommen aus. Fehlende Scheiben, kaputte Türen, viel Müll. Einen Schriftzug „Axaia“ gibt es noch und ein frisch betonierter Weg mit Blindenleitstreifen führt genau auf das kaputte Gebäude zu. Fahren hier wirklich noch Züge? Richtung Westen stehen ein paar kaputte Güterwagen, das Gleis verliert sich im zugewachsenen Nirgendwo. Hier fährt (seit 2011) definitiv kein Zug mehr. Richtung Osten jedoch: ein neuer betonierter Bahnsteig. Ein Gleis, das befahrbar aussieht und tatsächlich (seit 2020 wieder) regelmäßig befahren wird. Vor allem aber: ein blauer Container, auf dem ein Fahrplan hängt. Und im dem ein Mensch sitzt, der Tickets verkauft. Ich kann ein Ticket kaufen (wann kommt man schonmal für 3 € nach Rio?) - da wird es doch wohl auch einen Zug geben?! 

Um 8:56 Uhr soll der Zug ankommen, der um 9 Uhr wieder zurückfährt nach Patras und weiter nach Rio. Er kommt nicht pünktlich, aber er kommt. Schneller Fahrtrichtungswechsel, und mit 5 Minuten Verspätung geht es wieder zurück.

Der kleine Dieseltriebwagen fungiert als „Patras Suburban Railway“. Aus vielen Scheiben kann man nicht mehr herausschauen. Der Wagen stinkt, wie wenn man den Dieseltreibstoff direkt in die Klimaanlage einspritzen würde. Unglaublich, dass dieser rollende Schrotthaufen gerade einmal rund 20 Jahre alt ist. Griechenland pflegt antikes deutlich besser als modernes...

Anders als der Triebwagen weiß die Strecke zu begeistern. Schon auf den ersten Kilometern geht es direkt am Meer entlang, in Fahrtrichtung links blickt man auf brechende Wellen und im Hintergrund auf die 2004 eröffnete Rio-Andirrio-Brücke, die die gleichnamige Meerenge überbrückt.

Am Bahnhof Tsoukaleika steht überraschend eine riesige Kirche neben dem Bahngleis. Sie scheint recht neu zu sein. Ich hoffe, dass sie trotzdem gut gepflegt wird.

Mit 85 km/h schmeißt sich der Zug danach über die schlecht verlegten Gleise. Alle Variationen von mediterraner Vegetation fliegen am Fenster vorbei. Kinder spielen Basketball. Alte Fabriken verfallen vor sich hin. Autos warten am Bahnübergang. Balkonblumen blühen um die Wette. Der kleine Triebwagen fährt direkt an den Häusern und Gärten vorbei. Heute würde man hier wohl einen Tunnel bauen, „not in my backyard“ war beim Bau dieser Bahnstrecke noch kein verbreitetes Phänomen.

An der Station Agios Andreas müssen alle, die weiterfahren wollen, den Zug wechseln. Ab hier sind es zwei aneinandergekoppelte Rumpelkisten, die durch Patras eiern. Der Zug ist jetzt deutlich voller, offensichtlich sind wir jetzt in der Innenstadt. Der Schaffner schwätzt noch ein bisschen mit der Reinigungskraft auf dem Bahnsteig, dann geht es weiter. Auf einem schmalen Gleis, eingezwängt von Grundstückbegrenzungsmauern, mitten durch städtisches Gebiet.

Bald darauf geht es erneut direkt am Wasser entlang. Schiffe zur Linken, Kirchtürme und Kaffeehäuser zur Rechten. Der Zug wackelt mit 13 km/h durch das Zentrum von Patras. Das ist immer noch zu schnell, um alles erfassen zu können. Eine spannende Bahnstrecke mitten durch eine spannende Stadt.  Das ebenfalls spannende Betriebswerk schaut aus wie ein Museum, scheint aber noch in Betrieb zu sein. 

An der Station Panachaiki endet das Sightseeing-Gebummel, jetzt geht es wieder etwas schneller voran. Die Bebauung lockert allmählich wieder auf, die Häuser werden wieder kleiner und die Vegetation dichter. Noch zehn Minuten Gehämmere auf den nicht verschweißten Gleisen, dann erreichen wir Rio. Hier endet das Schmalspurgleis, die Suburban Railway fährt nach wenigen Minuten Aufenthalt wieder zurück. Eigentlich sollte hier schon längst ein Normalspurgleis liegen und die Bahnstrecke Athen – Patras – beschleunigt, begradigt und auf Normalspur umgespurt – wieder durchgehend befahrbar sein. Aber bis das soweit sein wird, kann man an der Uferpromenade von Rio noch viele Café frappé genießen.


Diakopto – Kalafryta

22 Kilometer lang, 750 mm breit, bis zu 14 % steil: so kann man die Zahnradbahn Diakopto – Kalvryta in Zahlen fassen. Ich könnte sie in Worte fassen und vom sächsischen Klischeerentner und dem sizilianischen Kalifornier schreiben, mit denen wir die Fahrt verbracht haben. Ich könnte mich beeindruckt über die Vouraikos-Schlucht und die Brücken über selbige äußern. Aber ich lasse in diesem Fall lieber die Bilder und Videos sprechen. Wer die gesehen hat, der versteht wahrscheinlich, warum wir die Fahrt so toll fanden – und warum wir uns auf der Rückfahrt in Mega Spileo spontan entschieden haben, dass wir jetzt doch nicht zum gleichnamigen Kloster wandern wollen, sondern dass wir auf der Bahntrasse durch die Vouraikos-Schlucht zurück ins Tal wandern wollen. Ja, AUF der Bahntrasse. Wir wollten das auch nicht glauben, als es der Wanderführer empfohlen hatte. Angeblich ist die Bahntrasse Teil eines Europäischen Fernwanderweges. Man muss halt den Fahrplan kennen und sollte nicht Tunnel oder Brücke betreten, wenn bald ein Zug kommt. Aber wir waren nicht die einzigen Wanderer auf der Trasse. Und wir waren komplett begeistert. Diese Wanderung wird uns noch lange in Erinnerung bleiben.



 
 


















Dienstag, 18. Oktober 2022

Eisenbahn in Albanien: Durrës - Elbasan

Fährt er oder fährt er nicht? Das ist die spannende Frage, die sich uns in Bezug auf den Zug von Durrës nach Elbasan stellt. Es ist im September 2022 der einzige Personenzug in ganz Albanien. Die Website der albanischen Bahn behauptet, dass er fährt - und zwar von Juni bis September, jeweils Samstag und Sonntag, ein Zug pro Tag und Richtung. Der Besitzer des Hostels in Tirana behauptete, dass der Zug derzeit nicht fährt. Es bleibt spannend.

In Durrës angekommen, finden wir den Bahnhof recht schnell. Ein ziemlich großes, ziemlich leeres Gebäude mit vielen blauen Stühlen und insgesamt drei Menschen. Zwei davon sind auch Backpacker, die mit dem Zug fahren wollen. Die dritte sitzt in einer Ecke der großen Halle hinter einem Fenster mit der Aufschrift „Biletari“. Die freundliche Frau verkauft Fahrkarten. Das ist doch schonmal ein gutes Zeichen. Das Ticket wird von Hand beschriftet. In ein großes Buch wird eingetragen, wie viele Fahrkarten ausgestellt wurden. Hier hat alles seine Richtigkeit. Und vor einem Stromausfall muss man keine Angst haben.



Der Eisenbahnfriedhof hinter dem Bahnhofsgebäude sieht nicht danach aus, wie wenn da noch was fahren könnte. Aber eine Lok und ein Wagen werden sich tatsächlich pünktlich um 15 Uhr in Bewegung setzen. Die Lokomotive wurde 1988 in der Tschecheslowakei gebaut, der Wagen ungefähr zur selben Zeit in der DDR. Die Länder, in denen dieser Zug gebaut wurde, gibt es nicht mehr, aber den Zug gibt es noch. Größenteils zumindest. Ein paar Fensterscheiben fehlen. Beziehungsweise: sie liegen in der Gepäckablage.

Überraschung 1: Dieser Zug mit den fehlenden Scheiben und Sitzpolstern kann noch fahren. Überraschung 2: Der Wagen ist gut gefüllt. Von rauchenden Männern, neugierigen Kindern, dem Backpacker-Pärchen aus der Bahnhofshalle und fünf jungen Österreichern. Die anderen Urlauber sind mutmaßlich auch Eisenbahnliebhaber, die unbedingt dieses Bahnabenteuer erleben wollten. Überraschender ist, dass viele Einheimische tatsächlich den Zug nutzen, um von A nach B zu kommen. Einen Zug, der zweimal pro Woche fährt.

In Golem gibt es einen Bahnhofsvorsteher, der auch das Fahrkartenverkaufsbüro betreibt. Für zwei Züge pro Woche und Richtung. An Bord des Zuges gibt es zwei Lokführer, eine Schaffnerin und eine Putzfrau. Ganz schön viel Personalaufwand für einen einzigen Waggon.

Bei der Abfahrt in Kavaje haben wir nur 3 Minuten Verspätung, obwohl wir bislang noch nie schneller als 35 km/h gefahren sind. Von der Adria hat sich der Zug mittlerweile entfernt und rumpelt ins Landesinnere. Vor dem Fenster immer mal wieder kleine Felder. Tabak. Wein. Obst. Truthähne. Gänse. Schafe. Ziegen. Immer mal wieder eine Kuh. Kühe sind in Albanien anscheinend keine Herdentiere, sondern Statussymbole. Ein Maultierfuhrwerk. Kräuter. Birnen. Mais. Plastikmüll. Ab und an ein kaputtes Signal. Vor dem Fenster ist es so spannend, dass der Zug gerne noch langsamer fahren dürfte.

Die Sträucher stehen so dicht am Gleis, dass sie durch die Fensterrahmen ins Abteil hineinragen. Es ist richtig laut, wenn die Maisblätter am Fensterrand entlangfächern. Nach einer Stunde im Zug komme ich mir vor wie ein geschmückter Weihnachtsbaum: Arme. Schultern und Schoß sind bedeckt von Blättern und Gestrüpp. Diese Bahnfahrt, die ist lustig, diese Bahnfahrt, die ist schön.


Nach dem Halt in Lekaj beschleunigt der Zug auf 42 km/h. Das fühlt sich atemberaubend schnell an. Der Wagen springt quasi in mehrere Richtungen gleichzeitig. Die Lokomotive röhrt und pfeift aus dem letzten Loch.

Eine größere Zahl verrosteter, zugewachsener Gleise kündigt den Bahnhof Rrogozhine an. Von den Nachbargleisen ist teilweise nur noch eine Schiene erhalten. Manche Schienen der Nachbargleise hängen komplett in der Luft. Hoffentlich ist das Gleis, auf dem wir fahren, etwas fester im Boden verankert.

Die Landschaft hat sich mittlerweile deutlich gewandelt. Draußen ist es jetzt hügeliger und dünner besiedelt. Am Horizont sieht man nun richtige Berge. Ein alter Mann führt Ziegen über den Acker. Eine alte Frau treibt mit einem langen Stock Truthähne den Weg entlang. Ein Mann hält zwei Leinen in den Händen, an einer Leine eine Kuh, an der anderen Leine ein Pferd. Ein anderer Mann hütet ein paar Schafe. Olivenbäume. Friedhof. Moschee. Ein trockenes Maisfeld. Granatäpfel. Pflaumen. Ein alter Betonbunker aus der Hoxha-Diktatur, der heute wahrscheinlich ein Hühnerstall ist. Wieder Olivenbäume. 

An einem Bahnübergang kommt der junge Ladenbesitzer neugierig aus dem Geschäft. So oft erlebt er das nicht, dass hier ein Personenzug vorbeikommt. Auch wenn dieser nur aus einer Lokomotive und einem Waggon besteht.

In Peqin steigen viele Passagiere aus, es scheint sich um den wichtigsten Unterwegshalt zu handeln. In der Tat stehen hier seit längerer Zeit mal wieder dreistöckige Gebäude. Laut und dauerhaft hupend bahnt sich die Lokomotive ihren Weg aus der Stadt. Es klingt wie im Fußballstadion. 

Palmen in den Vorgärten. Verschiedenstes Obst und Gemüse auf den Feldern. Schafe grasen zwischen Grabsteinen. In der zunehmend bergigeren Landschaft überqueren wir auf niedrigen Brücken trockene Täler. Tatsächlich lohnt auch die Landschaft eine Fahrt mit diesem verrückten Zug.

Die einheimischen Fahrgäste wechseln immer mal wieder die Plätze, kommen miteinander ins Gespräch, rauchen eine Zigarette nach der nächsten und schmeißen ihren Müll durch den Fensterrahmen nach draußen. Wir Touristen staunen über Zug und Landschaft, sind aber deutlich weniger kommunikativ.

Vor dem Bahnhof in Bishqem steht neben dem Bahngleis ein schöner Feigenbaum. In den Vorgärten hängen Äpfel an den Bäumen und Trauben an den Reben. Was für uns romantisch ist, ist für die albanische Landbevölkerung vermutlich eine wichtige Einnahmequelle.

Mit 20 km/h schaukelt der Zug über eine lange Brücke, dann verschwindet er im Tunnel. Im Wagen ist es stockdunkel. Als es wieder hell ist, fahren wir plötzlich durch einen Kiefernwald. Dann wieder Dunkelheit. Nach dem nächsten Tunnel fahren wir nach längerer Zeit mal wieder parallel zu einer asphaltierten Straße. Es wird wieder „zivilisierter“, dichter besiedelt, moderner.

Brücke, Tunnel, kurz Licht, dann wieder Tunnel. Das Röhren der Lokomotive, das Quietschen der Schienen und die völlige Dunkelheit prägen die Tunnelfahrten. Wir sind nur 68 Meter über dem Meer, diese Streckenführung würde aber auch ins Hochgebirge passen. 

Ich hänge den Kopf durch die kaputten Fensterscheiben in der Außentür und blicke vor zur Lok. Ich hänge die Kamera aus der kaputten Tür am Ende des Zuges und blicke auf krumme Gleise. Ich liebe diesen kaputten Zug. Das hier ist wahrscheinlich das verrückteste Eisenbahnabenteuer Europas.

Kurz vor Elbasan verzweigt sich die Strecke. Weil ich mal wieder den Kopf aus der Tür rausgestreckt habe, erlebe ich ein tolles Schauspiel: Ein Mann steht an einer Weiche mitten im Nirgendwo und reicht dem Lokomotivführer eine Stange, während der Lokführer eine andere Stange aus der Lok wirft. Jeder Streckenabschnitt hat eine Stange, nur wer die richtige Stange hat, darf in den Streckenabschnitt einfahren. So ist sichergestellt, dass niemals zwei Züge kollidieren können. Man nennt das bei der Eisenbahn Signalsystem. Das albanische Signalystem ist ziemlich menschlich. 

In Elbasan ist Endstation. Die weiterführende Strecke nach Pogradec ist seit Jahren stillgelegt. Es gibt hochtrabende Pläne für eine durchgehende Bahnverbindung nach Nordmazedonien und Griechenland. Aber vorerst gibt es nicht einmal genug Geld, um das eine Personenzugpaar mehr als zweimal pro Woche fahren zu lassen.

Am Bahnsteig werden wir empfangen von wilden Hunden und kleinen Kindern, die sich freuen, an uns ein paar Brocken Italienisch ausprobieren zu können. Wir werden mit high five verabschiedet. Den vollgeschmierten kaputten Waggon lassen wir alleine zurück. Die Lok ist schon weggefahren und wird gleich am anderen Ende des Wagens wieder andocken. Dann hat sie wahrscheinlich Feierabend. Der nächste Personenzug muss erst in 6 Tagen wieder gezogen werden, am Samstag, den 17. September. Am 18. September ist dann Saisonende. Ob und wie oft der kaputte Waggon auch nächstes Jahr wieder durch das albanische Hügelland schaukeln wird, das weiß wohl noch niemand so ganz genau. Wahrscheinlich sollte man sich beeilen, wenn man dieses verrückte Bahnabenteuer noch in dieser Form erleben will. Vielleicht kann man sich aber auch noch viele Jahre lang Zeit lassen.