Mittwoch, 22. März 2017

Tatort - Lagerfeuer der Nation und Spiegel der Gesellschaft



Tatort: Sechs Buchstaben, 90 Minuten. 47 Jahre Fernsehgeschichte, 47 Jahre deutsche Geschichte. Über 1.000 Sonntage mit Mord. Als 1970 der erste Tatort lief, war Willy Brandt Bundeskanzler, Jochen Rindt war Formel 1-Weltmeister und 0,5 Liter Bier haben 70 Pfennige gekostet. Das muss lange her sein.

Die deutsche Gesellschaft hat sich stark gewandelt in den letzten Jahrzehnten, und der Tatort als ihr Spiegel hat sich mitgewandelt. Nur so konnte er überleben. Mehr als nur das: Jetzt, wo es kein „Wetten, dass“ mehr gibt, ist der Tatort – neben der Nationalmannschaft – das letzte verbliebene Lagerfeuer der Nation.

Jeder Generation ihr Medium: Den Großeltern das Radio, den Eltern das Fernsehen, uns das Internet – aber alle schauten und schauen wir Tatort. Am Sonntag um 20:15 Uhr. Wie wenn es kein Time-Shift und kein Mediathek-Streaming gäbe. Die Älteren haben sich vielleicht etwas mehr auf die Mörderjagd konzentriert, während wir Jüngeren auch die lustigsten Twitter-Kommentare auf dem Second Screen im Blick haben; unsere Eltern schauen den Tatort in der Regel zu zweit, wir schauen ihn gemeinsam mit Freunden, durchaus auch beim „Public Viewing“ in der Kneipe – selbst die Art, Tatort zu schauen, ist ein Spiegel unserer Gesellschaft und der unterschiedlichen Generationen. Aber am Sonntagabend mit einem Glas Wein in der Hand auf der Couch sitzen und Tatort schauen, das ist und bleibt Deutschland.

Mein Vater war von Anfang an dabei, er hat Timmel 1970 im Taxi nach Leipzig fahren sehen. Ich bin irgendwann in meiner Vor-Abi-Zeit eingestiegen, als mit Bienzle und Palu noch die alte Bundesrepublik das Fernsehprogramm dominierte, mit Ritter/Stark und Dellwo/Sänger aber auch schon das 21. Jahrhundert auf dem Bildschirm Einzug hielt.

Wenn man Sonntag für Sonntag Tatort schaut, merkt man gar nicht, wie sehr die Kriminalfälle den Wandel der Gesellschaft spiegeln. Erst im Rückblick wird klar, wie wir uns verändert haben: Wenn man zum Beispiel einen Schimanski von 1988 schaut und sich wundert, warum er in die Telefonzelle rennt, statt einfach das Handy aus der Tasche zu ziehen.

Wenn man wissen will, wie Deutschland im Jahr X aussah oder aussieht, sollte man einen Tatort aus dem Jahr X schauen. Wunderbare, unterhaltsame Zeitdokumente. Wie schön gemütlich Deutschland und seine Verbrecher früher waren! Heute gibt es hingegen Handys, Internet, Überwachung, Drohnen und künstliche Intelligenz – kein relevantes Thema, das nicht schon mal im Tatort aufgegriffen wurde. Und trotzdem überrascht er immer wieder mit neuen Inhalten. Ein bisschen Sozialkritik darf schon sein. Humor auch. Und Spannung sowieso. Wenn alles zusammenkommt, dann ist es ein guter Tatort. Wenn stattdessen nur wilde Action zu sehen ist, dann ist es ein Til-Schweiger-Tatort.

Das who is who der deutschen Schauspielerei war schon einmal Tatort-Kommissar: Gustl Bayrhammer, Manfred Krug, Götz George, Hannelore Elsner, Jan Josef Liefers, Joachim Król, Nora Tschirner usw. Und weil es anscheinend nicht so viele deutsche Schauspieler gibt, hat Martin Brambach in elf (!) verschiedenen Tatort-Fällen als Nebendarsteller mitgewirkt, bevor er 2016 in Dresden zum Kommissariatsleiter wurde.

Erst 1981 gab es (mit Hanne Wiegand) die erste Frau als Ermittlerin – die später von ihren Kollegen aus dem Job gemobbt wurde. Heute wundert sich niemand mehr über weibliche Ermittler – in Dresden gibt es sogar das erste Frauen-Duo. Dortmund (wo auch sonst?) hat uns mit Nora Dalay alias Aylin Tezel die erste Kommissarin mit türkischem Migrationshintergrund beschert, in Köln (wo auch sonst?) gibt es endlich den ersten bekennenden Homosexuellen. Und von den Einzelkämpfer-Kommissaren haben nur Lindholm und Murot überlebt – im 21. Jahrhundert arbeitet und ermittelt man eben im Team. Der Tatort als Spiegel unserer Gesellschaft.

Das Private und insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielen im Tatort heute eine viel größere Rolle. Früher ist Bienzle von der Arbeit nach Hause gekommen, hat den Hut und somit die Arbeit an die Garderobe gehängt, von Hannelore gab es Begrüßungskuss und Abendessen und die Welt war wieder in Ordnung. Heute ist Anna Janneke mit ihrer rund-um-die-Uhr-Doppelrolle als Patchwork-Mama und Kommissarin komplett überfordert, und es ist irgendwie überhaupt nichts mehr in Ordnung – der Tatort als Spiegel unserer Gesellschaft.

Der Tatort zeigt nicht nur den Wandel unserer Gesellschaft, er zeigt auch die Vielfalt der deutschen Gesellschaft. Das raue Duisburg von Schimanski und Thanner, das multikulturelle Köln von Ballauf und Schenk, das kühle Kiel von Borowski und Brandt, das verschrobene Franken von Voss und Ringelhahn – das alles ist Deutschland. Der Dialekt der saarländischen Sekretärin, die Fußballbegeisterung von Kossik, der Humor von Thiel und Boerne – das alles ist Deutschland.

Natürlich unterscheidet sich die Qualität von Woche zu Woche. Wenn der Tatort aus Wiesbaden oder Dortmund kommt, dann können auch HBO-Serien nicht mithalten. Wenn Ludwigshafen und Konstanz laufen, kann man sich wenigstens 90 Minuten lang über den schlechten Tatort auslassen. Aber auch wenn der Tatort nicht immer überzeugen kann: Routine tut gut in einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt. 90 Minuten ohne E-Mail-Terror und ohne islamistischen Terror. Einfach nur mit einem Mord und einem Glas Wein. Am Anfang spielt Udo Lindenberg Schlagzeug, und am Ende wird der Mörder gefunden und die Welt ist gerettet. Seit 47 Jahren.

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Dieser Artikel wurde zum ersten Mal im Battle of Blogs gepostet. 

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