Die Autos müssen in den Kleinen Graben einbiegen, geradeaus im Großen Graben herrscht Fahrverbot: Der Große Graben ist wie große Teile der Brixner Altstadt eine Fußgängerzone. Romstraße und Kleiner Graben hingegen stehen nach wie vor überwiegend den Autos zur Verfügung, die zu Fuß gehenden Menschen sind teilweise durch Ketten von der Fahrbahn abgeschnitten. Und das, obwohl es mit der Dantestraße 200 Meter weiter eine autogerechte Parallelverbindung gibt. Und es seit 2011 einen 110 Mio. € teuren Umfahrungstunnel gibt, der eigentlich hätte die Dantestraße entlasten und zu ihrem Rückbau führen sollen. Und es neben bzw. über dem Umfahrungstunnel die Brennerautobahn gibt, die ja auch eine Umfahrung von Brixen darstellt. So viel Geld und Fläche für Autos – und die Fußgänger werden hinter Ketten gesperrt. Brixen scheint eine Stadt für Autos zu sein, keine Stadt für Menschen.
Städte für Menschen
Das Schlagwort der „Städte für Menschen“ entstammt dem gleichnamigen Buch von Jan Gehl. Der bekannte Architekt empfiehlt dem Rest der Welt, was er in seiner Heimatstadt Kopenhagen erfolgreich angewendet hat: den städtischen Raum den Menschen zurückgeben. „Langsamerer Verkehr bedeutet automatische lebendigere Städte“, kann man in seinem Standardwerk nachlesen, und „schneller Verkehr hat leblose Städte zur Folge.“ Gehl untermauert seine Thesen mit eindrucksvollen Fotos weltweiter Positiv- und Negativbeispiele.
Das häufigste Gegenargument für eine Neuverteilung des öffentlichen Raums, für eine Umwandlung von Pkw-Fahrspuren in Fahrradstreifen, Busspuren und Fußgängerzonen, lautet: Dann gibt es Stau und Verkehrschaos und alles bricht zusammen.
Jan Gehl rechnet vor, dass das Gegenteil der Fall ist und Pkw-Fahrspuren in Innenstädten eine ineffiziente Flächenverschwendung sind: Zwei 3,5 Meter breite Streifen beidseits der Straße bieten Platz für bis zu 20.000 Passanten pro Stunde; zwei Radwege mit einer Breite von zwei Metern genügen für 10.000 Radfahrer pro Stunde; eine einfache Straße mit zwei Fahrspuren hingegen bietet nur Platz für 1.000 bis 2.000 Fahrzeuge pro Stunde.
Diese Zahlen findet man in vielen Studien und Publikationen. Aber nicht in den Köpfen der Menschen. Da steht geschrieben: Je mehr Straßen ich baue, desto weniger Stau gibt es.
Verkehrsberuhigung in Brixen
Brixen hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Straßen gebaut. Und sich davon weniger Stau erhofft. Funktioniert hat das nur bedingt: Eine Studie des Ingenieurbüros Helmut Köll aus dem Jahr 2007 hat prognostiziert, dass der Autoverkehr in Brixen nach der Eröffnung des Umfahrungstunnels um 43 % abnehmen wird. Vor dem Bau des Tunnels waren auf der SS 12 im Zentrum von Brixen bis zu 25.000 Kfz pro Tag unterwegs. Und jetzt, 11 Jahre und 110 Mio. € später? Genaue Zahlen gibt es keine, die sollen in Kürze erhoben werden. Aber klar ist: Die gewünschte Entlastung hat es noch nicht gegeben. Die Dantestraße wurde nicht rückgebaut oder verkehrsberuhigt, im Kleinen Graben und in der Romstraße gibt es weiterhin keine Einschränkungen für den Autoverkehr. Die Verkehrsbelastung in der Brixner Innenstadt ist weiterhin hoch.
„Automobilität ist jene Mobilitätsform, die derzeit global in jeder Minute mehr als zehn Menschenleben zerstört.“ (Hermann Knoflacher) |
In den vergangenen Jahrzehnten war man in Brixen konsequent(er), was das Thema Verkehrsberuhigung angeht: Anfang der 1970er Jahre wurde – gegen große Widerstände – der Autoverkehr vom Domplatz und aus weiten Teilen der Altstadt verbannt. Anfang der 1990er Jahre wurde der Große Graben verkehrsberuhigt.
Warum hat man weitere 20 Jahre später nicht die Chance genutzt, zeitgleich mit der Eröffnung des Umfahrungstunnels eine fußgängerfreundliche Umgestaltung der Innenstadt zu initiieren? Das beantwortet Thomas Schraffl, Mobilitätsreferent der Gemeinde Brixen, im Interview:
Brixen nicht zu Tode beruhigen
Übertreiben sollte man es allerdings nicht mit der Verkehrsberuhigung – davor warnt der Obmann der Brixner Kaufleute: Hans-Peter Federer beschäftigt sich bereits seit 20 Jahren intensiv mit dem Thema Verkehr in der Brixner Altstadt und saß fünf Jahre lang im Gemeinderat. Heute sitzt er in seinem Schuhgeschäft am Großen Graben und empfängt zum Interview. Gut gelaunt und gut vorbereitet argumentiert er, warum er eine weitergehende Verkehrsberuhigung für kontraproduktiv hält. Er will Brixen „nicht zu Tode beruhigen.“
„Wenn die Stadt anfängt leer zu werden, ist sie tot.“ (Hans-Peter Federer) |
Der Obmann der Kaufleute streitet also nicht ab, dass verkehrsberuhigte Straßen attraktiv für die flanierende Kundschaft sind. Die Kaufkraft im kleinen Brixen ist aber begrenzt, er fürchtet einen Verdrängungswettbewerb, wenn noch mehr Fußgängerzonen eingerichtet werden. Zumal Romstraße und Kleiner Graben seiner Meinung nach „kein Schleichweg, sondern ein Entlastungsweg“ sind, auf den man trotz Umfahrungstunnel nicht verzichten kann: „Nur drei Nord-Süd-Straßen – das ist zu wenig.“
„Wenn es schön ist, fühlen sich die Touristen wohl. Und wenn sie sich wohlfühlen, geben sie Geld aus.“ (Hermann Knoflacher) |
Dank der Verlegung des Schwerlastverkehrs in den Umfahrungstunnel gibt es laut Federer auf der alten Durchfahrtsstraße weniger Stau und es ist attraktiver geworden, mit dem Auto nach Brixen zum Einkaufen zu fahren: „Ohne Umfahrungsstraße wäre es der Tod der Innenstadt gewesen.“ Gegen Durchfahrtsbeschränkungen auf der Dantestraße wehrt sich Federer hingegen vehement: „Der Kunde meidet die Stadt, wenn er gezwungen wird, auf die Umfahrungsstraße zu fahren.“
Dem Konzept Shared Space, demzufolge sich alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt die Verkehrsfläche teilen sollten, kann Federer nicht viel abgewinnen: Er hält es für ein veraltetes und gefährliches Konzept, das folgerichtig auch anderswo nur selten umgesetzt wird. Und: „Wenn andere das schon nicht machen, warum sollen wir das machen? Man kann auch aus dem lernen, was andere nicht machen.“
Ist Federers Schlussfolgerung, dass man besser gar nichts machen sollte? Zumindest sollte die Gemeinde nichts Falsches machen: „Es reicht, dass die Stadt die Autos verbannt hat, es sollten jetzt nicht auch noch die Fahrräder ausgelagert werden.“ Gegen ein fahrradfreundliches Brixen hätte auch Hans-Peter Federer nichts einzuwenden: „Sperrige Geschäfte wurden eh aus der Innenstadt verbannt, also können die Leute auch mit Fahrrad einkaufen.“
Einladung zum Fahrradfahren
Beim Verlassen des Schuhgeschäfts blickt man rechts auf einen Fahrradständer, an dem 19 Fahrräder stehen. Würden dort 19 Autos stehen, dann bräuchten die mehr als 190 m² Platz. Platz, den es nicht gibt. Oder den man den Fußgängern und Radfahrern wegnehmen müsste. Und genau das sollte man laut Jan Gehl nicht machen: „Am wichtigsten ist, dass wir die Menschen dazu animieren, das Laufen und Radfahren zur täglichen Gewohnheit zu machen. Einladung ist hier das Schlüsselwort.“
„Nichts ist vergleichbar mit der einfachen Freude, Rad zu fahren.“ (John F. Kennedy) |
Anderswo wurden die Menschen eingeladen, zu Fuß zu gehen oder mit dem Rad zu fahren: In Gehls Heimatstadt Kopenhagen, wo Café-Außenbereiche frühere Straßenflächen besetzen. In Wien, der Haupt-Wirkungsstätte des bekannten Verkehrsplaners Hermann Knoflacher, wo die einst vielbefahrene Mariahilferstraße in eine Begegnungszone umgewandelt wurde. In New York, wo in den letzten Jahren 100 Kilometer neue Radwege gebaut wurden und der Higline Park auf einem alten Bahnviadukt zum Flanieren einlädt. In Seoul, wo ein Autobahnviadukt abgerissen und der darunter liegende Fluss freigelegt und in eine grüne Lunge umgewandelt wurde. Die Zukunft der Städte ist nicht mehr autogerecht, sondern menschengerecht. Warum nicht auch in Brixen?
Autofreie Zukunft
In ein paar Jahren könnte es dann so sein, dass an einem kalten Märzmorgen keine Autos mehr von der Romstraße in den Kleinen Graben einbiegen. Der öffentliche Raum gehört dann Radfahrern und Fußgängern, die Autos wurden aus dem Brixner Stadtzentrum verbannt; es gibt keine Ketten mehr, die die Fußgänger an den Rand drängen; fröhliche Familien fahren in Cargobikes ihre Kinder und ihre Einkäufe durch die Stadt; dank Elektrofahrrädern und City-Bussen ist für die täglichen Erledigungen niemand mehr auf das Auto angewiesen; zufriedene Händler haben vor dem Eingang ihres Geschäfts Fahrradbügel aufgestellt und profitieren davon, dass Touristen wie Einheimische mit Bus und Fahrrad unterwegs sind und nicht mehr wie früher mit dem Auto: In einer attraktiven Innenstadt ohne Verkehrslärm und Gestank geht man lieber einkaufen als in einem gesichtslosen Einkaufszentrum auf der grünen Wiese. Und wer Fahrrad fährt, der kauft im Zentrum ein und belebt es somit.
Um es mit den Worten von Jan Gehl zu sagen: „Eine gute Stadt ist wie eine gute Party: Die Gäste bleiben, weil es ihnen gefällt.“
Diese Multimedia-(Abschluss)arbeit entstand gemeinsam mit Julia Belli im Rahmen des Journalismuslehrgangs des KfJ.
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