In Italien wohne ich, in Dänemark sitze ich gerade in einem Café. Dieses Café Empire in der Innenstadt von Frederikshavn gefällt mir ausgesprochen gut: Schöne Möbel, gemütliches Ambiente, wärmender Chai Latte, köstliche Walnusstorte – und eine Ruhe, die ob der großen Gästezahl fast schon unrealistisch ist.
Wärmender Chai Latte, köstliche Walnusstorte |
Unrealistisch? Nein, für Dänemark ist diese Ruhe eigentlich völlig normal. Ich erwische mich dabei, das Café mit der italienischen Brille zu sehen. Wäre das Café Empire nicht in Frederikshavn, sondern an einem Adriahafen, dann würden die Kinder die ganze Zeit rumbrüllen, die Kellnerin würde statt Ruhe Hektik ausstrahlen und statt der Designersessel gäbe es Plastikstühle. Dafür würde der Kaffee nur ein Viertel kosten.
Auf der Europakarte liegt Dänemark oben, Italien liegt unten. Ähnlich verhält es sich in Rankings zu Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, Lebensqualität und Bildung. Guter Norden, schlechter Süden? Mitnichten. Es muss ja einen Grund geben, warum so viele Menschen Italien lieben: Das Wetter alleine kann es nicht sein
Meine Gedanken im Café Empire kreisen um die Frage, ob es realistisch ist, dass das akkurate Dänemark und das chaotische Italien in einer politischen Union vereinigt sind; dass beide die selben, in Brüssel von 28 Nationen beschlossenen Spielregeln befolgen; dass sie in der Außen-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik mit einer Stimme sprechen.
Nein, das ist nicht realistisch.
Im Café Empire in Frederikshavn |
So schön es ist, dass es dieses gemeinsame Europa mit all seinen allseits bekannten Schwächen gibt: Natürlich kann Europa nicht dauerhaft funktionieren, können Deutschland und Frankreich nicht dessen gemeinsamer Motor sein, wo doch der vorherrschende Familientyp in Deutschland die Stammfamilie, in Frankreich hingegen die Kernfamilie ist.
Dieser Unsinn ist nicht meine Meinung, sondern die subjektiv und überspitzt formulierte Zusammenfassung eines Interviews mit dem französischen Soziologien Emmanuel Todd, das ich im Café Empire im Spiegel gelesen habe. In seinem Buch „Traurige Moderne“ erklärt Todd anscheinend gleich die ganze Geschichte der Menschheit anhand der Evolution von Familiensystemen. Garniert ist das Ganze mit einer Karte, die Europa in drei vorherrschende Familientypen einteilt, mit scharfen Trennlinien zum Beispiel zwischen Luxemburg und Belgien sowie zwischen Nord- und Südtirol. Im SPIEGEL wurde dabei laut Fußnote eine vereinfachte Darstellung gewählt, unterscheidet Todd doch eigentlich vier regionale Ausprägungen des Kernfamilien- sowie zwei des kommunitären Familientyps.
Dieser Quatsch erinnert mich an Samuel Huntington, der mit ähnlichen Kartendarstellungen den „Kampf der Kulturen“ herbeischreiben wollte und damit bei der Bush-Adminstration bekanntlich auf offene Ohren gestoßen ist. Meine Hoffnung ist, dass die Verantwortlichen in Brüssel Robert Menasse lesen und nicht Emmanuel Todd. Dass sie sich also von einem Satiriker zu Visionen verleiten und nicht von einem Pessimisten Europa kaputtreden lassen. Und dass sie nicht auf die Befindlichkeiten der Elfenbeinturm-Bewohner in den Zentren der europäischen Hauptstädte Rücksicht nehmen, sondern sich mehr mit den Befürchtungen der Großwohnsiedlungsturm-Bewohner an den Rändern der europäischen Großstädte beschäftigten. Jede Familie in Europa sollte ernstgenommen werden und sich ihre Miete sowie die Ausbildung ihrer Kinder leisten können – egal ob es sich dabei um eine Stammfamilie, eine Kernfamilie oder eine kommunitäre Familie handelt. Dann klappt es auch wieder mit den Wahlergebnissen für die europafreundlichen Parteien.
Lang lebe die Europäische Union! |
Es ist leider so, dass sich nicht jeder Europäer den Luxus gönnen kann, im Café Empire in Frederikshavn einen Chai Latte und eine Walnusstorte zu genießen. Aber jeder Europäer kann seine Meinung frei äußern; sein Reiseziel, seinen Arbeitsplatz, ja sogar seinen Wohnort innerhalb der Union frei wählen. Für uns ist das mittlerweile eine Selbstverständlichkeit, für Osteuropäer war es noch vor 30 Jahren ein ferner Traum.
Die Europäische Union ist eigentlich ein Wunder. Ein Wunder, das(s) das akkurate Dänemark und das chaotische Italien vereint hat/sind. Ein Wunder, über das wir uns freuen und das wir verteidigen sollten, statt es ständig schlechtzuschreiben.
Schreibt der deutsche Staatsbürger mit italienischem Wohnsitz, der sich in einem dänische Café über einen französischen Soziologen ärgert, bevor er das Schiff nach Schweden betritt.
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