Mittwoch, 31. Oktober 2018

Inlandsbahn (Skandinavien 4)


Göteborg – Mora

Die Lokomotivführerin ist deutlich jünger als die Lokomotive. Inmitten der modernen Triebzüge, die vom Hauptbahnhof von Göteborg in den Tag starten, ist der lokbespannte und fast schon historische Zug Richtung Mora ein echter Paradiesvogel. Einer, auf den ich mich zu Recht gefreut habe. 589 Kilometer werde ich nun im supergemütlichen Uraltwaggon über Kristinehamn bis nach Mora zurücklegen. Heute Nachmittag geht es von Mora dann weitere 320 Kilometer bis nach Östersund. Von dort werden mich dann nurmehr 746 Kilometer vom nördlichen Ende der Inlandsbahn in Gällivare trennen. Vor mir liegen also 1.655 Kilometer Vergnügen auf zwei Schienen. Stieg Larsson im Ohr, meine Kamera in der Hand, Wälder und Seen vor dem Fenster: Los geht sie, die Reise auf der Inlandsbahn.




Mora - Östersund

96.000 Seen gibt es in Schweden. Ziemlich viele davon habe ich heute gesehen, darunter den größten (Vänernsee) und einen der bekanntesten (Siljansee). Aktuell zieht der Storsjönsee, der fünftgrößte See des Landes, am Zugfenster vorbei. Im Hintergrund geht allmählich die Sonne unter. Seen, Felsen, Flechten, Moos, Nadelbäume, Birken, Holzhäuser und Holztransporter – so, wie man sich Mittelschweden immer vorgestellt hat, so sieht es tatsächlich aus. Und alles, was man vorher über die Inlandsbahn gelesen hat, trifft auch zu. Inklusive der Tatsache, dass das Abendessen schon Stunden vorher ausgewählt und bestellt werden kann. Bei unserer Ankunft in Åsarna – auf die Minute pünktlich um 18:21h – gab es dann in der Tat keine langen Wartezeiten, sondern leckeren Halloumiburger.


So wie die heutige Fahrt mit der Inlandsbahn stelle ich mir eine Kreuzfahrt vor: Der unterhaltsame Animateur gibt Infos zu Streckenverlauf und Aufenthaltszeiten; der bärtige, pfeifenrauchende Lokführer könnte auch ein Seemann sein; einige der Mitreisenden waren schon Rentner, als ich auf die Welt kam; man kann jederzeit Kaffee (was wäre Schweden ohne Thermoskannen?) und Snacks ordern (und selbstredend bargeldlos zahlen). Und während die Fahrgäste auf Landgang sind und etwas essen, wartet der Triebwagen draußen am Anleger, äh, Bahnsteig.


Die Fahrt ist lang, aber dank Entertainment nicht langweilig. Auf Schwedisch und Englisch gibt der Zugbegleiter regelmäßig Geschichte und Geschichten zu den Orten entlang der Strecke bekannt. Aber auch zum Zug und zur Strecke selbst. Zum Beispiel, dass bei den Dieseltriebwagen irgendwann die ursprünglichen FIAT-Motoren durch leistungsfähigere Volvo-Motoren ersetzt wurden.

Die gemütliche und entspannte Fahrt auf dieser wunderbaren Strecke, die dank begeisterter Bahnenthusiasten und engagierter Anrainer nie stillgelegt wurde, kann wärmstens empfohlen werden. Das Ganze erinnert mich an Bahnreisen, die ich in Kanada und Russland unternommen habe. Dort gab es aber jeweils keine Rentiere – und keine Fotostopps auf sehenswerten Brücken. Außerdem ist der Zug dort jeweils die Nacht durchgefahren, während ich in Östersund nun zwei Nächte und einen Wandertag verbringen werde.



Östersund - Gällivare

Als der Zug um 18:09h am Polarkreis stoppt, ist die Reise schon fast beendet. Mit weiß gestrichenen Steinen und einem überdimensionierten Infoplakat wird der aktuelle Verlauf des Polarkreises angezeigt; mit einem kleinen Metallbahnsteig („Ausstieg vorne rechts“) wird der Ausstieg erleichtert; mit einem vom Zugbegleiter unterschriebenen Zertifikat wird bestätigt, dass man den Polarkreis überquert hat.




Während der zwei Tage an Bord habe ich ein Gefühl dafür bekommen, wie groß Schweden ist. Und was für eine Herausforderung es gewesen sein muss, diese Strecke zu bauen. Zwei Tage Fahrzeit sind ja gar nichts im Vergleich zu 30 Jahren Bauzeit: Von 1907 bis 1937 war man damit beschäftigt, Land zu entwässern, Dämme zu bauen und Gleise zu verlegen. Als die Bahn dann endlich fertig war, war das Auto schon da. Die Blütezeit der Inlandbahn war also recht kurz. Und der wichtigste Fahrgast war die deutsche Wehrmacht: Das ach so neutrale Schweden (seit 1809 keine offizielle Kriegsbeteiligung mehr, das toppt in Europa nur die Schweiz) hat es zwischen 1940 und 1943 immerhin 2 Mio. deutschen Soldaten und ihrem Material ermöglicht, mit der Inlandsbahn Richtung Norwegen und Finnland zu gelangen.

Heute kommen die Deutschen als Touristen in den Norden, wenig überraschend stellen sie auch auf der Inlandsbahn eine der größten Sprachgruppen. Ich „erfreue“ mich also an heimatlichen Lauten, diskutiere mit Schwaben über den Unsinn namens Stuttgart 21 und lasse mir von ex-Berlinern spannende Anekdoten aus alten West-Berliner Zeiten erzählen. Jeder, der einmal in Berlin gewohnt hat, scheint das Gefühl zu haben, in einer Zeit in Berlin gewohnt zu haben, in der die Stadt deutlich spannender und interessanter war als heute. Da nehme ich mich selbst nicht aus (Erstwohnsitz Berlin: 2005-2012).

Während im Sommer 2018 in Berlin, Südtirol, Lissabon und anderswo über „Overtourism“ und die Grenzen der Belastbarkeit gesprochen wird, scheint in Lappland die Welt noch in Ordnung zu sein. Diese menschenleere Moos-und-Waldlandschaft könnte glatt als 11. Provinz Kanadas durchgehen. Aus den unendlich großen Waldmassen vor den Fenstern der Indlansbahn lassen sich viele IKEA-Möbel zusammenbauen. Sehr viele. Die wellenförmigen Wolken faszinieren mich genauso wie bei meinem ersten Lappland-Besuch im Jahr 2004.


Es ist schon dunkel, als der Zug – selbstverständlich pünktlich – in Gällivare ankommt. Seit Mora bin ich an 55 Unterwegsbahnhöfen vorbeigekommen. Die meisten irgendwo im Nirgendwo, manchmal stieg tatsächlich mal jemand ein oder aus, aber nur äußerst selten Einheimische. Viele Orte wurden einst durch die Eisenbahn belebt, aber in den letzten Jahrzehnten ist die Einwohnerzahl der meisten Unterwegsgemeinden stark gesunken.




Ein paar verrostete Waggons hier und da, aber zwischen Mora und Gällivare kam nur ein einziges Mal ein Gegenzug – Meeting Point war am Eisenbahnmuseum in Sorsele.




Ich habe zwei Straße-Schiene-Kombibrücken überquert, einen einzigen 50 m langen Tunnel durchfahren, eine Rentierherde und einen Elch gesichtet. Nun bin ich am Ende der Reise mit der Inlandsbahn angelangt. Der folgende Film fasst die zwei Tage Fahrt in sechs Minuten zusammen:


Gällivare

Hätte es eines letzten Beweises bedurft, dass ich versehentlich in Kanada gelandet bin, here we go: Ham and eggs am Frühstücksbuffet; vor dem Fenster eine in dichten Nebel gehüllte amerikanische Vorstadtlandschaft mit dicken Autos, breiten Straßen und Einfamilienhäusern; ansonsten: Nichts. Außer der Tankstelle an der Hauptstraße. Die hat rund um die Uhr geöffnet und sie ist so etwas wie das soziale Zentrum der Gemeinde.



Gällivare ist nicht nur Verkehrsknotenpunkt, sondern auch der Standort von Eisenerzgruben und -verarbeitungsanlagen. Das riecht man. Und erkennt man indirekt daran, dass der Ort zum Teil umgesiedelt und neu erbaut wurde. Aus der Größe der Häuser und Autos kann man schließen, dass in den Bergwerken gut verdient wird. Dass die Lebenshaltungskosten hier oben sehr hoch sind, erkennt man auch daran, dass das Bed&Breakfast in Gällivare die teuerste Unterkunft meiner Reise ist. Wer keinen der gut bezahlten Bergwerk-Jobs hat, sollte sich lieber einen anderen Job suchen. Oder gleich einen anderen Wohnort. Irgendwo, wo die Luftqualität besser ist und die Temperaturen höher sind. Also irgendwo weiter südlich.

Abschließend ein kurzer Foto-Streifzug von Süd nach Nord entlang der Inlandsbahn:























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