Zwei Jahre Verspätung wegen Corona, da fallen die zusätzlichen zwei Stunden Verspätung wegen der Bahn ja kaum ins Gewicht: Endlich brechen wir auf zum Donauberglandweg.
Wir haben in Stuttgart auf dem Bahnsteig meinen ebenfalls gestrandeten Kollegen Julian getroffen, in Sindelfingen einer ebenfalls gestrandeten älteren Dame geholfen, weiter Richtung Überlingen zu kommen und in Böblingen mit einer ebenfalls gestrandeten Studentin Kaffee getrunken. Danke, Deutsche Bahn, für diese wunderbaren Begegnungen, die Autofahrer:innen verwehrt bleiben...
Um 12:51 Uhr kann es endlich losgehen. Der Bus spuckt uns in Gosheim aus und fährt weiter. Etwas verloren stehen wir zwischen Rathaus und Kreissparkasse und müssen uns erstmal orientieren. Wir könnten jetzt unbeschwert loswandern – wenn, ja wenn nicht unsere Unterkunft in Spaichingen gerade geschrieben hätte, dass sie unsere Buchungsbestätigung nicht erhalten und kein Zimmer mehr frei hat. Wir finden im Internet kein anderes freies Zimmer. Auf unserer Route liegt laut Wanderführer aber das Hotel Klippeneck. Wir rufen an – und landen bei der Mailbox eines Handwerkbetriebs. Laut Internet gibt es ein Gästehaus Klippeneck – aber da geht niemand ans Telefon. Egal, wir wandern los. Wenn alle Stricke reißen, müssen wir halt heute Abend abbrechen und wieder nach Hause zurückfahren.
Drei Tausender liegen auf der ersten Etappe: Lemberg (mit 1016 m.ü.NN der höchste Berg der Schwäbischen Alb), Kehlen (1001 m.ü.NN) und Hummelsberg (1002 m.ü.NN). Die Fernsicht ist heute etwas eingeschränkt, aber immerhin regnet es nicht. Wir genießen schmale Pfade, breite Forstwege und einen uns bislang nicht vertrauten Abschnitt des Albtraufs.
Gute Laune herrscht bei Edeka Lustig in Wehingen. „Wir lieben Lebensmittel“ steht über dem Regal mit Taschentüchern und Klopapier. „Hier müssen Sie ihr Obst selber wiegen“ steht nirgendwo. Zumindest haben wir es nicht gesehen. Also müssen wir von der Kasse nochmal schnell in die Obstabteilung sprinten. Aber alle haben Zeit und Humor und wünschen uns noch eine schöne Wanderung.
Gegen 18 Uhr kommt die Stunde der Wahrheit: Wir erreichen am Klippeneck den mit ca. 980 Metern höchstgelegenen Segelflugplatz Deutschlands. Können wir hier übernachten – oder müssen wir nach Spaichingen absteigen und abbrechen? Das Hotel Klippeneck – gibt es nicht mehr, scheint seit Jahren verlassen. Das Gästehaus Klippeneck – gibt es, aber da ist niemand. Die neu gebaute Hütte Klippeneck – hat mit dem Gästehaus nichts zu tun, aber wir erhalten den Tipp, dass die Inhaberin im benachbarten Gebäude wohnt. Dort klingeln wir – und hören tatsächlich bald darauf Stimmen („ich weiß auch nicht, wer da geklingelt hat“). Tatsächlich: Frau Neugebauer macht uns auf und hat noch ein Zimmer für uns. Anders als bei Stuttgart 21 lässt sich „oben bleiben“ am Klippeneck durchsetzen. Wir müssen heute nicht mehr nach Spaichingen absteigen und können stattdessen beim Abendessen den Sonnenuntergang über dem Schwarzwald genießen.
Der zweite Tag startet mit Wind und Kälte. Kein Wunder, wir sind ja auf fast 1.000 Metern Höhe. Zum ersten Mal richtig warm wird es uns erst am Nachmittag in der liebevollen Lippachmühle. Dazwischen liegen unter anderem der Dreifaltigkeitsberg mit einer lustigen Aneinanderreihung von Wanderliegen und der Alte Berg mit einer sehenswerten Rundkapelle – und bei schönem Wetter theoretisch einem Blick bis zum Mont Blanc und auf die Schweizer Alpen. Alpenblick haben wir heute keinen, aber der Donauberglandweg hat immer mal wieder selbst alpin anmutende Elemente.
In der warmen Lippachmühle angekommen, werden wir schlagartig totmüde. „Haben Sie W-Lan“, fragt ein anderer Gast. – „Nein, wir sind hier im Reich der Glückseligen". Die Wirtin hat aus ihrer Schweizer Heimat Rösti und ihren Akzent mitgebracht. Und steckt mit ihrem Humor die ganze Mühle an. Die sympathische Geschichte der Mühle – die eigentlich vor ein paar Jahren verkauft werden sollte – können wir in der Speisekarte nachlesen, während wir auf Johannesbeerschorle und Espresso warten. Leider findet Familie Aicher derzeit nicht genug Personal, um Übernachtungen anbieten zu können. Also müssen wir durch das Lippachtal weiter nach Mühlheim an der Donau wandern. Der Schwäbische Albverein hat hier dutzende Nistkästen aufgehängt und erklärt, welche Kastenform bei welcher Vogelart am besten ankommt. Die Kästen sind rückwärts nummeriert. Als wir endlich die 1 erreichen – sind wir noch lange nicht am Ziel, sondern müssen noch den Galgenberg erklimmen.
Irgendwann sind die 25 Kilometer geschafft. Wir auch. Wir schleppen uns über die steile Rampe die letzten 60 Höhenmeter hinauf in die Mühlheimer Altstadt und checken beim Hirsch ein – unsere Unterkunft heißt so wie das leckere Bier, das es hier überall gibt. „Am Abend sollten Sie in Mühlheim im Gasthof Hirsch die selbstgemachten Maultaschen oder die schmackhaften Wildgerichte testen“, empfiehlt unser hikeline-Wanderführer. Der wurde scheinbar veröffentlicht, bevor der Hirsch zum Ristorante Pizzeria wurde. Aber Antipasti Misto und Pizza Crudaiola wissen auch zu begeistern. Den Inhaber Alfredo würden wir am liebsten mit nach Hause nehmen. So einen sympathischen, authentischen italienischen Restaurantbetreiber muss man auch in Italien länger suchen. Mit Albert Einstein-Frisur und verschmitztem Lächeln hat er mein Herz sofort erobert. Mit dem Grappa aufs Haus erst recht. Beschwingt steigen wir die Treppe hinauf in unser Zimmer, während unten im Hauptraum DJ Toscana deutsche und italienische Party-Musik auflegt. Auch im Zimmer spürt man den Beat. Unsere Zimmermöbel tanzen in den Mai, wir verschlafen den Monatswechsel.
Am 1. Mai ist überraschend wenig los im Donaubergland. Selbst der Donau-Radweg, auf den wir ab und an stoßen, ist wie leergefegt. Alle anderen hatten wohl keine Lust auf Regen... Nach dem nassesten März seit mehr als 20 Jahren und dem nassesten April seit 15 Jahren startet der Mai nämlich ziemlich: nass.
Unser Ziel ist es, die 3. und 4. Etappe des Donauberglandweges an einem Tag zu gehen. Morgen müssen wir ja wieder im Büro sitzen. Das bedeutet: 28 Kilometer und über 1.000 Höhenmeter. Mehrmals geht es auf Felsen hinauf und wieder zur Donau hinab. Schwäbische Alb pur mit Höhlen, Kalkfelsen, Ausblicken und herrlichen Pfaden. Da ich der Donau mal mit dem Fahrrad von den Quellen bis ins Delta gefolgt bin, kann ich behaupten: Dieser Talabschnitt hier ist einer der schönsten der gesamten Donau (neben Weltenburger Enge, Wachau und Eisernem Tor).
Die freundlichen Bierzapfer an der Kolbinger Höhle müssen wir leider vertrösten. Wenn wir so früh Alkohol trinken würden, würde die Etappe wohl auf 30 Kilometer anwachsen. Auch im weiteren Etappenverlauf begegnen uns immer wieder nette Menschen. Zum Beispiel die Trailrunnerin am Aussichtsturm Gansnest, die uns den Weg zeigen will (wir hatten uns aber gar nicht verlaufen, wir wollten uns nur vor dem steilen Abstieg nochmal die Schuhe fester binden) und die vier lustigen Rentner:innen, die uns auf diesem Abstieg begegnen und zum Lachen bringen.
Unten am Bahnhof Fridingen überrascht uns das Hinweisschild auf der Bahnschranke: „Schranke wird auf Anruf geöffnet. Bitte Taste drücken.“ Es funktioniert, genauso wie die benachbarten Signale aus der Kaiserzeit.
Die „Vesperstube Ziegelhütte“ ist eine Ansammlung von Automaten. Wir hatten auf etwas Warmes gehofft. Der 1. Mai ist doch eigentlich so ein Bratwurst-Tag, wo plötzlich alles bewirtschaftet ist und überall gegrillt wird. Nicht hier. Leicht enttäuscht und schwer gängig schleppen wir uns hinauf zur Burgruine Kallenberg und verzehren dort unser Picknick – mit einem wunderschönen Blick auf Donau und Felsen. Andere nennen es den Schwäbischen Grand Canyon. Ich nenne es die Baden-Württemberger Dolomiten.
Jetzt sind es nur noch knapp 10 Kilometer bis Beuron. Es sind aber nicht gerade die spannendsten Kilometer des Donauberglandwegs... und der Regen macht es nicht leichter.
Bei Schloss Bronnen hört der Regen endlich auf. Der folgende steile Abstieg ist dennoch gefährlich rutschig. Vorbei an wilden Pferden und einer besinnlichen Lourdesgrotte laufen wir auf dem Zahnfleisch hinab zum Fluss. Die dunkle Wolke über uns entscheidet sich dafür, sich auf unserem letzten Kilometer nochmal so richtig auszuweinen. Das beeindruckend große Kloster Beuron, das Ziel des Donauberglandweges, lassen wir rechts liegen – das Drahtesel-Café auf der linken Straßenseite zieht uns magnetisch an. Wir wollen ins Trockene. Und unseren Durst stillen. Und Koffein. Danach schaffen wir dann auch noch die letzten paar Meter zum Bahnhof.
Ticket müssen wir keines kaufen, ab heute ist unser VVS-Abo ein Deutschland-Ticket. Mit Umstieg in Ulm geht es zurück nach Hause. Kein Chaos wie auf der Hinfahrt, sondern das Happy End einer wunderbaren Wanderfahrt. Der Donauberglandweg ist eine Reise wert.
Kloster Beuron |
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