Sonntag, 16. Juli 2023

Alpenüberquerung mit dem Gravelbike

Um 05:13 Uhr steigen wir auf den Sattel und rollen durch das nächtliche Neumarkt. Den Radweg im Unterland genießen wir bei Nebel und Sonnenaufgangslicht. Der langweilige Radweg nach Meran wird kurzweilig zerredet. Der kurzweilige Radweg ins Passeiertal macht wie immer Spaß. 


Beim 2. Frühstück in St. Leonhard haben wir schon 66 km auf dem Tacho. Als wir weiterfahren, begegnen wir den Spielern des FC St. Pauli, die erst um 9:30 Uhr das Training beginnen. Da haben wir heute früher gestartet. Ja, wir haben schon 66 Kilometer. Aber bis zur Passhöhe fehlen noch 29 Kilometer und vor allem 1.800 Höhenmeter. Gehen wir’s an!

Die Landschaft ist schön, die Straße ist schön, das Wetter ist schön – wenn nur der ohrenbetäubende Lärm der zwei- und vierrädrigen Peniskompensatoren nicht wäre... Ein Toyota aus Groß-Gerau erwischt Fabian fast am Knie, ein Motorrad fährt fast frontal in ihn rein. Bei jedem Verkehrsmittel gibt es ein paar Prozent Arschlöcher, bei Motorradfahrern sind es ein paar Prozent mehr. Gedanklich sehe ich mich mit einem Schweizer Taschenmesser auf dem Motorradparkplatz, es gelingt mir dann aber doch, meine Energie sinnvoller zu investieren – indem ich in die Pedale trete.



Wir machen einen Abstecher zur Oberglanegg Alm. Hier ist es ruhig, schön und lecker. Allerdings liegen die Brennnesselknödel bei den letzten 500 Höhenmetern schwer im Magen. Immer wenn ich aufstoße, verdrängt ein deftiger Duft nach Parmesan und Butter die Sportwagenabgase.

Um 13.25 Uhr stehen wir nach 98 km Bergauffahren auf dem Timmelsjoch. Geschafft! Ein Rennradfahrer aus München macht ein Foto von uns. Er ist um 23 Uhr in München gestartet und hat schon 220 Kilometer in den Beinen, sein Tagesziel ist der Gardasee (oder zumindest die Montiggler Seen). Was sind wir doch für Looser...

Nach der Fotosession stürzen wir uns in die Abfahrt – mit Rückenwind. Obwohl ich ständig bremse, erreiche ich 73 km/h – ein persönlicher Rekord. Fabian kommt sogar auf 80 km/h - ebenfalls persönlicher Rekord. 

Auf dem Weg nach Sölden, dem „schneesichersten Wintersportort der Alpen“, unterqueren wir ein Eisengerüst. Über dieses Gerüst fährt im Winter ein Schrägaufzug "vom Schiraum auf die Piste". Piefke-Saga 4 war deutlich untertrieben. Irgendwann hat man im Ötztal gemerkt, dass man nicht nur Kühe melken kann, seitdem werden hier für zu melkende Touristen allerhand Verrücktheiten gebaut. Hotels heißen meist Chalets, Pensionen heißen jetzt Lodges und was einst bei Neckermann als Ferienwohnung gebucht wurde, läuft bei booking.com jetzt als Appart.

Beim M-Preis in Sölden tätigen wir einen typischen Radfahrereinkauf und sind erstaunt über uns selbst, dass wir schon wieder so viel essen können. Dann radeln wir weiter, immer schön bergab, meist leichter Rückenwind. Als ich das bislang einzige Mal übers Timmelsjoch geradelt bin, musste ich das Rennrad auf der verkehrsreichen Bundesstraße durch das ganze Ötztal fahren und mich dabei zweimal vor einem Gewitter unterstellen. Im Inntal ist dann eine Speiche gebrochen und ich musste abbrechen. Die Anekdote kann man in meinem Buch „Südtirol radelt“ nachlesen.


Heute läuft es besser: kein Gewitter, kein Speichenbruch – und vor allem führt durch das Ötztal mittlerweile ein Radweg. Ein richtig schöner!
 

67 Kilometer sind es von der Passhöhe am Timmelsjoch bis zur Area 47. Das Ötztal ist schon wirklich lange. Und wir müssen heute sehr viel bergauf gefahren sein, sonst wären wir nicht mit so viel Abfahrt belohnt werden. Wir genießen bei der Kaffeepause den Blick auf lustige Aktivitäten im Funpark.

Überraschend einfach gewöhnen wir uns in Imst daran, dass es jetzt wieder bergauf geht – und ziehen noch bis Nassereith durch. Nach 187 Kilometern und 2.955 Höhenmetern beenden wir die Königsetappe.

Der 2. Tag startet mit strahlendem Sonnenschein. Auf der alten Römerstraße quälen wir uns zum Fernpass hinauf. Ich vermisse die kleinen Gänge der Pinion-Schaltung am Reiserad.



Die Berglandschaft ist ein Traum. Die Blechlawine auf der Fernpassstraße ist ein Albtraum. Wir folgen also auch auf der Abfahrt weiterhin den Kieswegen des Radfernwegs Via Claudia Augusta und meiden die Straße. Was uns natürlich Zeit kostet. Bis wir endlich mal in Leermoos sind, ist schon halb zwölf, aber wir haben erst 30 Kilometer. An dieser Stelle rechnen wir beide nicht damit, dass es heute insgesamt 150 werden.


Am Nachmittag kommen wir deutlich schneller voran. Vorbei an der „Highline 179“ bei Reutte, über einen wahrlich grünen Grenzübergang vor Pfronten, vorbei an den vertrauten Ortsschildern Nesselwang und Oy erreichen wir Kempten. Unzählige Male füllen wir unterwegs die Wasserflaschen nach. Dann gibt es – bei 33 Grad – endlich den längst verdienten Eisbecher. 





Allgäu ist, wenn du eine Unterkunft anrufen willst, aber telefonieren unmöglich ist, weil seit 5 Minuten neben dir die Kirchglocken läuten. Als die Glocken endlich schweigen, handeln wir uns mehrere telefonische Absagen ein. Schließlich ergattern wir das letzte Pilgerzimmer im Kloster Bonlanden. Es werden also nicht die letzten Kirchenglocken gewesen sein.

Ab Kempten folgen wir der Iller Richtung Norden. Die schönsten Flussradwege sind die, die nicht immer am Fluss entlang führen. Überraschenderweise hat auch der Iller-Radweg tolle abwechslungsreiche Auf- und Ab-Passagen abseits des doch etwas langweiligen Flusses. Die gletschergraue Ötz gestern war richtig beeindruckend, der kalktürkise Lech heute Mittag war richtig schön, die braune Iller kann da nicht mithalten. 

Die Beine sind immer noch richtig fit, sie tun nur am Einschussloch der Wespe weh. Der Rest des Körpers schmerzt, aber mit leichtem Rückenwind fliegen wir bei schönstem Abendlicht förmlich durch die Landschaft. Was für ein toller Abschluss der 2. Etappe. Der tragisch hätte enden können, ich wäre fast in eine zwischen zwei Pollern gespannte Kette gefahren…

Im Kloster gibt es kein Abendessen, also kehren wir drei Kilometer vorher beim Gasthof Adler ein. Kässpätzle und Gold Ochsen Bier sprechen dafür, dass wir schon ziemlich weit gekommen sind. Donnerstag Pizza in Italien, Freitag Gulasch in Österreich, Samstag Käsespätzle in Baden-Württemberg: So muss eine Alpenüberquerung schmecken.

Die abschließenden drei Kilometer zum Kloster fahre ich im Stehen – Po und Sattel vertragen sich nicht mehr. 

Auf dem Weg zum Frühstück laufen wir am nächsten Morgen durch den Regen – es wird das einzige Mal auf dieser Tour bleiben, dass wir nass geworden sind.

Den Iller-Radweg muss ich wann anders komplettieren: Alle 200 Meter liegt ein Baum auf dem Weg, die Gewitter vergangene Wochen haben voll zugeschlagen. Wir weichen auf parallel verlaufende Straßen(begleitende Radwege) aus. 

Die Landschaft ist schön, aber unspektakulär. Highlight ist eine Parade historischer Traktoren – Sonntag in Oberschwaben.

Ruckzuck sind wir in Ulm, flott kurbeln wir die Schwäbische Alb hinauf und kommen um 16:57 Uhr in Esslingen an. Von der Etsch an den Neckar in 3 Tagen, 467 Kilometern und 5.531 Höhenmetern. Wow!

Das beste: Ich bin jetzt zu Haus und muss nicht mehr mit der Bahn zurückfahren. Eine Katastrophe wie auf der Hinfahrt bleibt mir also erspart.

Auch gut: Die Route fürs nächste Jahr (mit Stilfser Joch und Gaviapass) haben wir schon grob im Kopf. Die Alpenüberquerung hat so viel Spaß gemacht, das müssen wir wiederholen.







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