Montag, 27. November 2023

Der höchste Gipfel von Mecklenburg-Vorpommern

Hans Zippert und Achim Bogdahn sind schuld. Der Kabarettist und der Radiomoderator haben jeweils ein Buch über die Besteigung der höchsten Berge aller 16 Bundesländer geschrieben und mich dadurch angefixt.

Deshalb steht mein Name im Gipfelbuch des 116 Meter hohen Hasselbracks in Hamburg, deshalb war ich am Freitag auf dem 115 Meter hohen Großen Müggelberg in Berlin. Und deshalb will ich heute auf den 179 Meter hohen Helpter Berg, den höchsten Gipfel Mecklenburg-Vorpommerns.

Auf der Fahrt nach Mecklenburg-Vorpommern musste ich gestern Abend an Rainald Grebe denken: „Pack dir Essen ein, war fahren nach Brandenburg“. Ich wollte einfach nur einen Kaffee trinken. Die Berliner S-Bahn hat meinen Umsteigepuffer an der Friedrichstraße aber so stark geschmolzen, dass ich den Kaffee nach Oranienburg verschieben musste. In der S-Bahn nach Oranienburg – keine Ahnung, warum der RE Richtung Stralsund erst dort startet - schlafe ich mehrmals ein. Dabei ist das Buch Machen Sie mal zügig die Mitteltüren frei - eine Berliner Busfahrerin erzählt“, das ich in der S-Bahn lese, eigentlich ganz spannend.

Die S-Bahn kommt verspätet um 18:01 Uhr am Bahnhof Oranienburg an. Dort „entsteht demnächst eine neue Filiale der Wriezener Backstube“. Die bringt mir noch nichts. Gegenüber ist eine Ladenfläche zu vermieten und ein Reisebüro geschlossen. Ich verlasse das Bahnhofsgebäude und trete auf den dunklen, kalten Vorplatz. Und siehe da: ein großes gelbes M. Der Kaffee da ist ja gar nicht so schlecht. Aber der kleine Junge auf der Treppe vor dem Eingang belehrt mich: „Die haben schon zu. Der da drin ist der letzte, dem sie was verkaufen.“ Will mich der Junge veräppeln? Will er nicht: McDonald's in Oranienburg schließt Sonntags tatsächlich schon um 18 Uhr. Enttäuscht trete ich den Rückzug ins Bahnhofsgebäude an. Auf dem Weg dorthin beobachte ich einen Mann, der an ein Baugerüst pinkelt. Toilette gibt es hier scheinbar auch keine. Pack dir Pampers ein, du fährst nach Brandenburg.

Zurück im Bahnhofsgebäude sehe ich ein Essens-/Getränkeschild, das nach oben zeigt. Es wird doch nicht... Doch, tatsächlich: Auf dem S-Bahnsteig gibt es einen Imbiss, der so heißt wie der Bahnsteig! Bockwurst 2 €, Eisbein 6 €, Kaffee klein 1,50 €. Großes Sortiment, kleine Preise - aber eine lange Schlange hungriger Eishockeyfans zwischen mir und der Thermoskanne. Ich gebe auf, will ja schließlich in 10 Minuten mit dem Zug nach Neubrandenburg starten. Der Umstieg in Oranienburg bleibt also ohne Ergebnis, aber mit Erlebnis.


0 Grad Celcius sind es bei meiner Ankunft in Neubrandenburg. Es fühlt sich noch kälter an. Zwei Taxifahrer, zwei Hunde, ein paar Jugendliche und viel Dunkelheit auf dem Bahnhofsvorplatz. Ich stelle mich ein bisschen ungeschickt an bei der Suche nach dem „Hostel Güterbahnhof“, in dem ich eine Übernachtung reserviert habe. Die Hundeausführerin, der ich in einem schlecht beleuchteten Hinterhof begegnet bin, ist genauso erschrocken wie ich.

Die Buchungsbestätigung von Herrn Schimanski war im Spamordner gelandet. Dort finde ich die wichtige Info: „Der Check-In ist ab 17.00 Uhr möglich und erfolgt selbstständig und unkompliziert via TÜR-CODE-SYSTEM. Sie erhalten Ihre Check-In-Daten am Anreisetag im GÜTERBAHNHOF Restaurant, direkt gegenüber vom Hostel am GÜTERBAHNHOF.“ Der Check-In funktioniert, aber der nette Mann verwirrt mich, indem er jeden Satz mit „na“ beginnt. Vermutlich eine Eigenheit des hiesigen Dialekts, aber ich komme mir immer ein bisschen dumm vor, weil ich fragen muss. „Na ab 7“ gibt es Frühstück, wie wenn das total logisch wäre. „Na 13 €“ kostet das Buffet, bei dem man so viel Kaffee trinken kann „wie man verträgt.“ „Na hier im Restaurant“ wird das ganze serviert.

Das Restaurant Güterbahnhof ist großartig. Das alte Bahngebäude wurde mit viel Holz und viel Geschmack saniert. Der Wildburger ist lecker. Das Bier auch. Und der Espresso auch. Endlich hab ich meinen Kaffee. Jetzt kann ich mich auf der anderen Seite des Kopfsteinpflasterplatzes zufrieden ins Bett legen.

Um 6:45 Uhr klingelt der Wecker. Ängstlicher Blick nach draußen: Kein Schnee, zum Glück. Minus 1 Grad. Ich bin aufgeregt wie vor einer Mount Everest Besteigung.

Bei der Morgengymnastik höre ich NDR1 Radio Mecklenburg-Vorpommern. Der Sender, der am Montagmorgen um sieben „80er Party“ spielt, ist mir sofort sympathisch. Gemeint sind auch hier die Pet Shop Boys, nicht die Puhdys. Unterbrochen wird die Party von Nachrichten (neuer Bürgermeister in Ludwigslust, ein Betrunkener hat einen schweren Unfall auf der Landstraße verursacht), Wetter (kalt) und Blitzerwarnungen. Blitzerwarnungen im Radio habe ich noch nie verstanden, es werden ja auch keine Standorte von Fahrkartenkontrolleuren oder Stichproben der Steuerfahndung angekündigt. Aber genug Radio gehört, rüber in den Güterbahnhof zum Frühstücksbuffet.

In einer Kühlvitrine steht direkt neben dem Lachs das Mett. Das letzte Mal, dass ich ein Mettbrötchen gegessen hab, war wahrscheinlich, als ich das letzte Mal die Pet Shop Boys gehört habe. Heute ist es wieder so weit.

Enrico aus Esslingen reagiert auf meinen Whatsapp-Status und hinterfragt, ob ich mir mit dem Helpter Berg wirklich den höchsten Berg Mecklenburg-Vorpommerns ausgesucht habe: „Die waren für mich die höchsten Berge vom Bezirk Neubrandenburg. Die Ruhner Berge die vom Bezirk Schwerin. Und die waren damals 2 m höher“. Enrico kommt ursprünglich aus dem heutigen Mecklenburg-Vorpommern, er kennt sich hier bestimmt besser aus als ich. Habe ich die lange Anfahrt also hinter mich gebracht, um auf den falschen Berg zu steigen? Zum Glück nicht: „Nee, du hast recht. Scheinbar umgekehrt.“

Ich kann also Kaffee austrinken, Mund abwischen, loswandern. Erstmal zum Bahnhof.

Der Bodennebel. Die Frühsonne. Der fast leere Zug. All das gäbe es im Sommer um 8:45 Uhr nicht. November ist ein toller Reisemonat. Raureif liegt auf den Feldern. Die Solarzellen neben dem Bahngleis sind eingefroren.


Um 8.56 Uhr kommen wir mit leichter Verspätung in Oerzenhof an. Der Zug fährt weiter, ich laufe los. Mangels Alternativen muss ich bis in den Ort Helpt entlang der Landstraße laufen, die letzten 1,85 Kilometer hinauf in die Helpter Berge wird es dann einen Wanderweg geben. Man könnte bis Helpt abkürzen, wenn man um 7:11 Uhr schon hier gewesen wäre. Der nächste Bus fährt erst wieder um 13:12 Uhr. Mit dem Bus fährt man hier scheinbar nur, solange man schulpflichtig ist.

Der Helpter Mühlensee ist ein kleines Highlight, ansonsten ziehen die ersten Kilometer ihren Reiz eher aus der Frühsonne und dem Restschnee. Bei dem Transporter, der mir trotz Schneeglätte entgegengerast kommt, muss ich an den Betrunkenen aus den Radionachrichten denken.



In Helpt riecht es nach Braunkohle. Die Mitgliederzahl des hiesigen Robert-Habeck-Fanclubs ist vermutlich überschaubar. Hunde kläffen, irgendwo läuft eine Motorsäge, Menschen sehe ich im ganzen Ort hingegen keine. Der schwedische Krimi, den meine Kopfhörer abspielen, könnte auch hier spielen. Die kläffenden Hunde machen mich wahnsinnig. Wenn sich einer davon von seiner Leine lösen würde – hier würde mich niemand retten. Nicht, weil die Menschen hier schlecht sind, sondern weil es keine gibt. Sie sind wahrscheinlich alle zum Arbeiten in der Stadt. Oder von wilden Hunden getötet worden.

Auf einmal ein Schrei: „Heeey! Hiiier!“ Ist das im Krimi? Nein, den habe ich pausiert. Es muss ein echter Mensch sein, hier in Helpt. Meint der Mann mich? Hilfe! Was will der schreiende Mensch von mir? Der Ort hat ein t zu viel.

Nein, er meint seine zwei Hunde. Er will sie davor bewahren, auf mich loszugehen. Nett von ihm.

Bald nach dem Dorfkrug (unklar, ob der noch in Betrieb ist) erreiche ich das Ortsende. Das Kläffen lässt nach. Die Sonne scheint auf den Schnee. Schee.

Nach links biegt der Wanderweg ab. Ich muss ein bisschen aufpassen, weil der Schnee zugefrorene Pfützen verdeckt. Habe keine Lust, im Eis einzubrechen. Aber ich habe Lust auf diese tolle Winterlandschaft, auf den wärmenden Anstieg, auf die hundefreie Einsamkeit. Eine Infotafel an einem Fahrrad-Rastplatz informiert über die Geologie der Helpter Berge. Fahrräder soll man hier anschließen, weiter geht es zu Fuß durch den Wald.


Der GPS-Track lotst mich in einen schmalen Pfad. Unter dem Schnee ist es rutschig, aber ich schaffe es, ohne nasse Füße voranzukommen. An einem Baum abseits des Weges beschleunige ich die Schneeschmelze, dann starte ich den Schlussanstieg. Ja, es ist wirklich ein Anstieg!

Auf dem Dollberg, dem höchsten Gipfel des Saarlandes, zeigte sich bei meiner Besteigung vor zwei Monaten ein Mädchen enttäuscht, dass es hier, anders als auf dem höchsten Gipfel von Mecklenburg-Vorpommern, kein Gipfelbuch gibt. Ich erklimme die Helpter Berge also mit der Erwartungshaltung, mich gleich in ein Gipfelbuch eintragen zu können. Aber Fehlanzeige: Das Buch wurde entwendet. Immerhin gibt es ein Gipfelkreuz mit tibetanischer Gebetsfahne, eine Rastbank und einen Unterstand. Ein paar Vögel knistern und zwitschern, sonst herrscht absolute Stille. Welch herrliches, einsames Gipfelerlebnis auf 179 Metern über Normal Null.




Bevor ich auskühle, trete ich den Rückweg an. Ob ich die 5 Kilometer zurück zum Bahnhof bis zur Abfahrt des nächsten Zuges in 52 Minuten schaffe? Challenge accepted.

Auf dem Rückweg ertönt in Helpt wieder das laute „Heeeeey!“ Diesmal schaue ich mir den Mann kurz an, als er seine beiden viel zu großen Hunde zurechtbrüllt. Sehr kurze Haare, sehr aggressiver Blick. So habe ich mir den Dorfnazi in Juli Zehs Buch „Übermenschen“ vorgestellt.

Ich traue mich diesmal etwas näher an den Dorfkrug heran: Er ist nicht mehr in Betrieb. Ich verzichte auf Fotos vom sicherlich sehenswerten Interieur: will keine Schuhabdrücke im Schnee vor dem Eingang hinterlassen; wer weiß, wie viele Kampfhunde sonst die Fährte aufnehmen würden.

Auf dem weiteren Weg durch den Ort sehe ich sogar noch einen zweiten Menschen. Genau wie der Kampfhundbrüller kehrt er Laub zusammen, aber er ist älter und freundlicher. Ich grüße, er grüßt zurück. Kurz vor dem Ortsausgang treffe ich sogar noch einen dritten Menschen, ein sehr alter Mann in Gummistiefeln. Ich grüße, er grüßt nicht zurück. Ein vierter Mensch, Typ neugieriger alter Mann, bremst seinen schwarzen Opel Corsa ab, um mich ganz genau beobachten zu können. Als er an mir vorbei ist, gibt er wieder Gas.

Ich lasse den Ort hinter mir, das Bellen der Hunde verstummt. Ich habe Helpt überstanden, Helpt hat den Landstreicher mit dem großen Rucksack überstanden.

Der schwedische Krimi im Ohr ist deutlich spannender als die Landstraße vor den Augen. Es ist deutlich heller als auf dem Hinweg. Genau wie auf dem Hinweg begegnen mir ein Transporter und ein Auto. In der Uckermark braucht man keine Autobahn, hier wird auch auf schmalen Landstraßen mit 120 gefahren.

Gerade rechtzeitig komme ich zurück zum Bahnhof Oertzenhof. Gemein: Der Zug vorhin hatte 6 Minuten Verspätung, der jetzt ist pünktlich. Ich hatte also weniger als zwei Stunden Zeit für die 10-Kilometer-Wanderung. Aber ich habe es geschafft und freue mich auf den warmen Zug.

Frau Sengpiehl kontrolliert mein Deutschlandticket. Frau Gerz-Grochulska führt kurz darauf eine Kundenzufriedenheitsbefragung durch. Mir wird auf der Fahrt nach Pasewalk also trotz der Landschaft nicht langweilig. Gleich bei meiner ersten Antwort, dass ich heute zum ersten Mal überhaupt auf dieser Strecke unterwegs bin, muss Frau Gerz-Grochulska merken, wie sinnlos es ist, mich zur Bahnqualität auf dieser Strecke zu befragen. Aber sie lässt sich das nicht anmerken und fragt mir Löcher in den Bauch. Sie will wissen, wie zufrieden ich mit dem äußeren Erscheinungsbild des Fahrzeugs bin, wie hoch mein Sicherheitsempfinden am Bahnhof Oertzenhof war und wie zufrieden ich mit dem Komfort des Fahrzeugs bin, in dem ich meine Knie fast nicht zwischen Sitz und Vordersitz kriege.

Clash of Cultures: Sie ist erstaunt, dass mir die Pünktlichkeit wichtiger ist als die Fahrthäufigkeit. In Mecklenburg-Vorpommern scheint man eher ein Problem damit zu haben, dass der Zug nur alle zwei Stunden kommt. Daheim in Baden-Württemberg ist das Problem eher, dass der Zug mal wieder gar nicht kommt. 

Mein Zug bringt mich nach Pasewalk, das mir gut 20 Jahre nach meinem ersten Besuch dort immer noch nicht gefällt. Aber der Cappuccino im Café Kurzweg ist gut. Zufrieden blicke ich zurück auf den Vormittag: Die Helpter Berge, Nummer 10 von 16 bei meinem Projekt, auf den höchsten Gipfeln aller Bundesländer gewesen zu sein, haben mir eine wunderbare Winterwanderung beschert. Ich freue mich auf die noch fehlenden sechs Berge. Und auf den Bahnausflug nach Polen, den ich heute Nachmittag noch geplant habe.


 

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