Samstag, 26. April 2025

Esslingen - München: 224-Kilometer-Fahrradtag

 

4 kleine Jägermeister wolln nach München fahrn.
Drei können es umsetzen, der vierte hat Magen-Darm.

Die Absage von Fabian kommt um 16:57 Uhr. Er wird nicht wie geplant heute Abend mit dem Zug von München nach Esslingen fahren, um morgen von Esslingen nach München zu radeln. Bleiben Michael, Wieland und ich, die morgen nach München fahren wollen. Wieland ist noch nie über 200 Kilometer an einem Tag geradelt, das will er morgen endlich mal machen. Da zeigen wir uns natürlich solidarisch und radeln mit.

Es ist alles vorbereitet, die Reifen sind aufgepumpt, die Taschen sind gepackt und hängen am Rad, der Tisch beim Griechen in München für morgen Abend 20 Uhr ist reserviert. Und der in der L'Osteria für heute Abend 18:30 Uhr auch.

Um 18 Uhr sehe ich: in meinem Hinterrad ist eine Speiche gebrochen. Shit! Wo krieg ich jetzt noch schnell eine neue Speiche eingebaut?

3 kleine Jägermeister sind vorher gut druff,
2 haben ein fittes Rad, der dritte nen Speichenbruch.


Ich ziehe die Fahrradschuhe an und eine Windjacke drüber und renne mit dem Fahrrad zu Bikes&Boards. Dort ist die Werkstatt völlig überlastet, man verweist mich auf VitBike. VitBike verweist mich auf Bikes&Boards. E-Motion hat wegen Krankheit geschlossen. Drei Fahrradläden weiter bin ich patschnass geregnet und habe mir eine blutige Ferse gelaufen, aber das Fahrrad ist immer noch kaputt.

Aufgeben ist keine Option. Aber andere fallen mir erstmal keine ein. Völlig durchnässt wechsele ich erstmal zu Hause die Klamotten, dann radele ich mit dem Stadtrad durch den starken Regen zur L’Osteria, wo die anderen schon auf mich warten, und bin wieder total durchnässt.

Reparatur heute geht nicht mehr, Rennradverleih auch nicht. Reparatur morgen ist zu spät. Das Gravelbike meiner Freundin ist mir zu klein, das Stadtrad ist keine Option. Bleibt: mein 15kg schweres Reiserad. Damit wird aus der Challenge, an einem Tag nach München zu radeln, eine schwere Challenge.

Im weiteren Verlauf des Abends stelle ich noch fest, dass ich den Speichenbruch schon zwei Tage vorher fotografiert hatte: für den Ersatzschlauchkauf habe ich meine Mantelgröße abfotografiert. Ohne männlichen Tunnelbick hätte ich nicht nur die Mantelgröße, sondern auch den Speichenbruch entdeckt und hätte mich rechtzeitig vor der Münchentour darum kümmern können.

Das Drama geht weiter: Ich bekomme die falsche Pizza geliefert, was bedeutet, dass ich erstmal nur eine halbe Pizza habe. Die Vorfreude auf morgen ist weiterhin groß, aber das Karma scheint nicht auf meiner Seite zu sein. 

In der Nacht wache ich einmal pro Stunde auf und wundere mich, wann es endlich so weit ist. Der Wecker wird um 4:25 Uhr klingeln, aber ich bin schon um 4:22 Uhr wach.

Kaffee. Frühstück. Fahrradklamotten an. Taschen auf die Räder. Los geht's! Um 5:13 Uhr starten wir in der dunklen Tiefgarage. Draußen ist es auch noch nicht heller.

Das wichtigste haben wir eine halbe Stunde später geschafft: noch bei Dunkelheit durch Plochingen, damit wir es nicht sehen müssen. Filstalaufwärts wird es allmählich hell, der hübsche Frühnebel löst sich auf.

Plochingen ist nicht das einzige Lowlight: Der Radschnellweg zwischen Reichenbach und Eberbach ist gesperrt; Wielands Hinterrad geht vor Uhingen die Luft aus; in Kuchen gibt es keinen Kuchen.

Der Schlauch im Hinterrad ist schnell gewechselt, ein netter Anwohner („wie kriegt mer da en Platte? Da isch doch alles asphaltiert!") liefert sogar Papierhandtücher zum Hände säubern. Radschnellweg-Ersatz gibt es zwischen Eislingen, Salach und Süßen. Der Kuchen wird in Geislingen nachgeholt. Um 8.26 Uhr plündern wir die dortige Bopp-Filiale, 50 Kilometer sind jetzt schon im Kasten.




Die ADFC-Reparaturstation in Eislingen hatte keinen Schlauch. Die in Geislingen zieht nur Luft raus, sodass Wieland jetzt wieder gar keine Luft im Hinterrad hat und eine Fahrradwerkstatt aufsuchen muss. Ich starte schonmal die Auffahrt über die Weiler Steige auf die Alb, bergauf werden die beiden schnellen Räder mich ja bald wieder einholen.





Bei 7 Grad waren wir losgefahren. 4 Stunden später sind es oben auf der Alb 8 Grad, jetzt allerdings bei starken Ostwind. Der Wind wird den ganzen Tag von vorne kommen, da hatte der Wetterbericht leider recht. Die 4 Kilometer lange Auffahrt von Geislingen nach Weiler wird der einzige Abschnitt des Tages bleiben, auf dem ich keine Jacke anhatte.


In Schalkstetten sammeln mich die anderen beiden wieder ein. Im zügigen Auf und Ab geht es jetzt durch einsame Alblandschaften. Der Gegenwind ist haarig, aber die Straßen sind wunderschön. Wir genießen teilweise mehrere Kilometer ohne ein einziges Auto. Welch wohltuende Entlastung für Lunge und Ohren.

Wir wechseln uns ab mit der Führungsarbeit. Mein Reiserad kann einigermaßen mithalten mit Rennrad (Michael) und Gravelbike (Wieland), aber Komfortzone ist das nicht mehr.

Die folgende Windschlacht im Donaumoos ist eintönig und anstrengend. Als Michael sein Rennrad doch mal auf 30 km/h beschleunigen möchte, muss ich abreißen lassen. Im Reiseradtempo kämpfen wir uns zur Donau und ins schöne Günzburg. Was wir erst nach der Tour auf Strava feststellen werden: Am Stadttor in Günzburg begegnet uns ein Radfahrer, der heute von Augsburg nach Stuttgart radelt. Der macht’s richtig. 


Um 11:49 Uhr stehen wir in der Bäckerschlange und warten auf die nächste Brotzeit. 99 Kilometer und 960 Höhenmeter sind geschafft. Die beiden Bäckerinnen sind noch deutlich langsamer als mein Reiserad. Wer am Race across Europe teilnimmt und diese Bäckerei betritt, hat das Rennen schon verloren. Die Bäckerin fragt, wohin wir fahren. „München!“ Die Reakton ist ein entsetzter Blick, der uns weitere wertvolle Minuten kostet.

Seele mit Butter, Apfelschorle, zwei Ostereier. Für insgesamt 5,50 €. Inklusive ist der Blick auf die überraschend vielen Menschen, die an der Schautafel die aushängende Günzburger Zeitung lesen. Die click- und share-rate ist niedrig, aber die relevante Zielgruppe wird erreicht. 


Mittlerweile sind es 11 Grad, aber es fühlt sich noch kälter an als am Morgen. Wir werden heute nie die Alpen sehen, sondern weiterhin erstmal nur grau. Michael und ich beneiden Wieland um die geschlossenen Handschuhe.

Es bleibt dabei: In die Gegenrichtung wäre es eine Mischung aus Kindergeburtstag und Ponyhof. Aber in unsere Richtung ist und bleibt der Gegenwind brutal. Nach der Hälfte der Kilometer haben wir schon zwei Drittel der Höhenmeter. Aber meine Beine sind auch schon zu zwei Dritteln durch. 


In Burgau fabrizieren wir einen kleinen Crash: Ich sehe das Auto von links zu spät (oder verstehe zu spät, dass das Auto Vorfahrt hat) und muss scharf bremsen, Wieland fährt mir hinten rein. Wieland und seine Kette springen runter, er landet zum Glück unverletzt im Stehen. Gut, dass ich mich heute für das robuste Reiserad „entschieden“ habe.

Nach der Querung des Zusamtals – Erinnerungen an meine Radreise von Sylt nach Oberstdorf im Sommer 2020 werden wach – gönnen wir uns eine Pause am Straßenparkplatz. Auf einmal tut es einen Knall: mein Fahrrad hat auch keinen Bock mehr auf den Wind, es fällt einfach um.


Der Naturpark Augsburg westliche Wälder ist super, im Wald ist der Wind nicht so stark. Der Abschnitt von Günzburg nach Augsburg ist aber insgesamt recht eintönig. Hast du eine Straße mit ihrem begleitenden Radweg gesehen, hast du alle gesehen.

Augsburg ist wider Erwarten eine Fahrradhölle. Die beschilderte Radroute in die Stadt führt entlang einer vierspurigen Einfallstraße. Die Autos haben an jeder der zahlreichen Kreuzungen eine rote Ampel, die Fahrräder derer drei. Wir sind aufgrund des andauernden Gegenwinds (und des schweren Reiserads) eh schon spät dran, die sinnlosen Radverkehrsführungen in Augsburg bremsen uns zusätzlich aus.

In der Maximilianstraße plündern wir zum dritten Mal heute einen Bäcker. Jetzt wieder Stuttgarter Preisniveau, aber es schmeckt überhaupt nicht. Wenn ich nicht wüsste, dass Augsburg eine schöne Stadt ist, wär es jetzt völlig unten durch... Fahrradfahren muss ich hier auf jeden Fall nicht mehr.



Haindling spielt mit Ohrwürmer, während wir uns allmählich von Schwaben Richtung Oberbayern bewegen. Die Gespräche werden weniger, scheinbar wird die Müdigkeit größer.

Im Landkreis Dachau kommen wir endlich mal wieder auf schmale und abwechslungsreiche Straßen. Unser GPS-Track ist zwar recht direkt, aber die Routenführung seit dem Donaumoos war doch recht eintönig. Unsere Stimmung ist zum Glück weiterhin besser als die Lage. 

Gegen 18 Uhr feiern wir das erste Münchner Kennzeichen und die erste MVV-Bushaltestelle, aber es sind noch immer 50 Kilometer. Um 18:27 Uhr sehen wir dann zum ersten Mal München am Horizont, das heißt den Olympiaturm und ein paar weitere Hochhäuser. Witzigerweise direkt am Abzweig nach Wenigmünchen. Wenigmünchen und viel München müssen natürlich in einem Video festgehalten werden:



Das Wetter ist mittlerweile deutlich besser, es kündigt sich schon an, dass morgen ein richtig schöner Tag gewesen wäre, um die Tour zu machen. Der Gegenwind bleibt uns noch bis Dachau erhalten, wo wir um 19:18 Uhr die 200 Kilometer komplettieren. Wieland hat sein Ziel erreicht. Wir zelebrieren mit einer letzten Pause auf einer Parkbank.


Nach und durch München rollen wir relativ gemütlich, aber mehr geben zumindest meine Beine auch nicht mehr her. Die Einfahrt nach München über eine komfortable Fahrradstraße ist richtig toll. Die Augsburger könnten sich hier mal anschauen, wie man vernünftige Fahrradinfrastruktur baut. 



Vor Schloss Nymphenburg halten ein paar Enten den Autoverkehr auf. Nun sind es noch zwei Kilometer bis zum Griechen.


Für 20 Uhr war der Tisch reserviert, um 20:25 Uhr sind wir da. 216,5 Kilometer und 1.867 Höhenmeter hat mein Garmin seit der Esslinger Tiefgarage aufgezeichnet. Die Gegenwindschlacht ist erfolgreich geschlagen, wir haben es geschafft! Die Stimmung ist ausgelassen, der Hunger ist groß. 


Wir übernachten in München jeweils bei guten Freunden, in drei unterschiedlichen Ecken. Wieland und ich müssen in die selbe Richtung und radeln noch gemeinsam durch die Münchner Nacht. Mit meinen 7 Kilometern bis Giesing ergibt sich eine Tagesfahrleistung von 224 Kilometer. Das habe ich schon lange nicht mehr geschafft, mit dem blauen Reiserad noch gar nicht. Mein Hirn muss noch ein paar Eindrücke von der Tour verarbeiten, bevor ich endlich einschlafen kann. Großartig, dass wir das gemacht haben. Großartig, dass wir es geschafft haben.