Mittwoch, 17. Juli 2019

Fahrrad trifft auf Auto: Unterwegs mit der kritischen Masse

Es ist überraschend warm für einen Karfreitag: Im T-Shirt, teilweise sogar in kurzer Hose, versammeln sich die Radfahrer auf dem Esslinger Bahnhofsvorplatz. Insgesamt werden es am Ende 29 sein, fast alle mit Helm, viele mit Warnweste, jeder auf einem anderen Gefährt: Von Liegerad über Lastenrad bis Pedelec ist alles vertreten. Eine Flagge erklärt, um welche Gruppe es sich hier handelt: „Critical Mass Esslingen“.

Bewaffnet mit Klingeln, Musik und dem Gefühl, die Guten zu sein, machen sich die Radfahrer weltweit auf der Konfliktzone Straße breit und bereit für das Aufeinandertreffen mit dem Gegner. Der Gegner hat doppelt so viele Räder, braucht zehnmal so viel Platz und hat tausendmal so viel Leistung: Das Auto, der natürliche Feind des Fahrrads. Beide Fahrzeuge wurden in Baden-Württemberg erfunden: das Fahrrad 1817, das Auto 1886. Und beide Fahrzeuge konkurrieren um die begrenzt vorhandene Verkehrsfläche. Ein gefährlicher Kampf: 8.700 Fahrradnutzer verunglückten 2016 auf Baden-Württembergs Straßen, davon 53 tödlich. Häufigster Unfallgegner: der Pkw.



Eine Critical Mass ist eine informelle Zusammenkunft von Radfahrern. Laut Straßenverkehrsordnung bilden mehr als 15 Radfahrer einen geschlossenen Verband: Analog zu einem Sattelschlepper darf bei einem geschlossenen Verband der hintere Teil eine Kreuzung auch dann noch passieren, wenn die Ampel mittlerweile rot ist. Je mehr Teilnehmer, desto länger müssen die Autos also warten, auch wenn sie eigentlich grün haben.

Ziel einer Critical Mass ist es, den Radfahrern mehr Sichtbarkeit und somit mehr Sicherheit im Straßenverkehr zu verleihen. Erfunden wurde das Konzept 1992 in San Francisco, heute ist es weltweit verbreitet. Bei der bislang größten Critical Mass wurden 2013 in Budapest ca. 100.000 Teilnehmer gezählt.

Die Messlatte für Esslingen ist nicht San Francisco oder Budapest, sondern Stuttgart: In der benachbarten Landeshauptstadt kommen im Sommer monatlich mehr als 1.000 Fahrradfahrer zusammen, um deutlich zu machen, dass auch sie eine Existenzberechtigung im öffentlichen Straßenraum haben. Das Ziel in Esslingen, wo die Teilnehmerzahlen zwischen 20 und 80 schwanken, ist es laut der Koordinatorin Petra Schulz, dieses Jahr erstmals die 100 zu knacken.

Die Karfreitags-Critical Mass rollt anfangs mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als 10 km/h durch die Innenstadt. „Oft entscheidet es sich in ein paar Sekundenbruchteilen, ob man positiv wahrgenommen wird oder negativ“, erklärt Petra Schulz. Und tatsächlich: Die Gäste des Eiscafés Torre lassen überrascht fast den Löffel zurück in den Eisbecher fallen, als die klingelnde Radfahrgruppe vorbeikommt. Der interessierte Blick wechselt sofort in ein Lächeln. Auf der gesamten Tour winken immer wieder Kinder, in einer Nebenstraße in Esslingen-Zell ruft sogar ein Vater seine Töchter aus dem Hinterhof vor an die Straße, damit sie sich das Fahrrad-Spektakel anschauen können. Das Ziel, mit der Critical Mass ein positives Bild der Radmobilität zu vermitteln, scheint erreicht.

Das Ziel, aus Esslingen eine fahrradgerechte Stadt zu machen, ist hingegen noch lange nicht erreicht: Im aktuellen Fahrradklimatest des ADFC hat Esslingen nur eine Gesamtnote von 4,3 erreicht, das bedeutet Platz 92 von 106 bewerteten Städten zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern. Die Radfahrerinnen und Radfahrer sind also offensichtlich unzufrieden mit den Bedingungen vor Ort.

Auch Petra Schulz ist unzufrieden: „Den öffentlichen Raum tatsächlich anders aufzuteilen ist eine sehr harte Nuss im autodominierten Esslingen.“ Auf die Frage, ob Esslingen eine Konfliktzone zwischen den Gegnern Auto und Fahrrad ist, antwortet Sie: „Im Moment schon, aber es sollte nicht so sein“. Folglich möchte man bei der Critical Mass in Esslingen bewusst nicht die Autofahrer provozieren, sondern ein positives Bild vermitteln.

Nach gut 13 Kilometern ist die Rundfahrt zu Ende, die 29 Fahrräder werden neben der Bar fuenfbisneun im lokalen Kulturzentrum geparkt. Bei Bier und Pizza wird die Tour rekapituliert und über die nächsten verkehrspolitischen Projekte gesprochen.

Für die Autofahrer ist die Störung vorbei, der Verkehr kann wieder ungebremst fließen. Für die Fahrradfahrer ist der Kampf um die Konfliktzone Straße vorerst beendet. Aber die beiden Gegner werden wieder aufeinandertreffen, spätestens am nächsten Dienstag im Berufsverkehr.

Mehr Infos zur Critical Mass in Esslingen gibt es hier, mehr Infos zur Critical Mass in Stuttgart gibt es hier.

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