Es ist überraschend warm für einen Karfreitag: Im T-Shirt, teilweise sogar in kurzer Hose, versammeln sich die Radfahrer auf dem Esslinger Bahnhofsvorplatz. Insgesamt werden es am Ende 29 sein, fast alle mit Helm, viele mit Warnweste, jeder auf einem anderen Gefährt: Von Liegerad über Lastenrad bis Pedelec ist alles vertreten. Eine Flagge erklärt, um welche Gruppe es sich hier handelt: „Critical Mass Esslingen“.
Bewaffnet mit Klingeln, Musik und dem Gefühl, die Guten zu sein, machen sich die Radfahrer weltweit auf der Konfliktzone Straße breit und bereit für das Aufeinandertreffen mit dem Gegner. Der Gegner hat doppelt so viele Räder, braucht zehnmal so viel Platz und hat tausendmal so viel Leistung: Das Auto, der natürliche Feind des Fahrrads. Beide Fahrzeuge wurden in Baden-Württemberg erfunden: das Fahrrad 1817, das Auto 1886. Und beide Fahrzeuge konkurrieren um die begrenzt vorhandene Verkehrsfläche. Ein gefährlicher Kampf: 8.700 Fahrradnutzer verunglückten 2016 auf Baden-Württembergs Straßen, davon 53 tödlich. Häufigster Unfallgegner: der Pkw.
Eine Critical Mass ist eine informelle Zusammenkunft von Radfahrern.
Laut Straßenverkehrsordnung bilden mehr als 15 Radfahrer einen
geschlossenen Verband: Analog zu einem Sattelschlepper darf bei einem
geschlossenen Verband der hintere Teil eine Kreuzung auch dann noch
passieren, wenn die Ampel mittlerweile rot ist. Je mehr Teilnehmer,
desto länger müssen die Autos also warten, auch wenn sie eigentlich grün
haben.
Ziel einer Critical Mass ist es, den Radfahrern
mehr Sichtbarkeit und somit mehr Sicherheit im Straßenverkehr zu
verleihen. Erfunden wurde das Konzept 1992 in San Francisco, heute ist
es weltweit verbreitet. Bei der bislang größten Critical Mass wurden
2013 in Budapest ca. 100.000 Teilnehmer gezählt.
Die Messlatte für Esslingen ist nicht San Francisco oder Budapest, sondern Stuttgart:
In der benachbarten Landeshauptstadt kommen im Sommer monatlich mehr
als 1.000 Fahrradfahrer zusammen, um deutlich zu machen, dass auch sie
eine Existenzberechtigung im öffentlichen Straßenraum haben. Das Ziel in
Esslingen, wo die Teilnehmerzahlen zwischen 20 und 80 schwanken, ist es
laut der Koordinatorin Petra Schulz, dieses Jahr erstmals die 100 zu
knacken.
Die Karfreitags-Critical Mass rollt anfangs
mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als 10 km/h durch die
Innenstadt. „Oft entscheidet es sich in ein paar Sekundenbruchteilen, ob
man positiv wahrgenommen wird oder negativ“, erklärt Petra Schulz. Und
tatsächlich: Die Gäste des Eiscafés Torre lassen überrascht fast den
Löffel zurück in den Eisbecher fallen, als die klingelnde Radfahrgruppe
vorbeikommt. Der interessierte Blick wechselt sofort in ein Lächeln. Auf
der gesamten Tour winken immer wieder Kinder, in einer Nebenstraße in
Esslingen-Zell ruft sogar ein Vater seine Töchter aus dem Hinterhof vor
an die Straße, damit sie sich das Fahrrad-Spektakel anschauen können.
Das Ziel, mit der Critical Mass ein positives Bild der Radmobilität zu
vermitteln, scheint erreicht.
Das Ziel, aus Esslingen eine fahrradgerechte Stadt zu machen, ist hingegen noch lange nicht erreicht:
Im aktuellen Fahrradklimatest des ADFC hat Esslingen nur eine
Gesamtnote von 4,3 erreicht, das bedeutet Platz 92 von 106 bewerteten
Städten zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern. Die Radfahrerinnen und
Radfahrer sind also offensichtlich unzufrieden mit den Bedingungen vor
Ort.
Auch Petra Schulz ist unzufrieden: „Den
öffentlichen Raum tatsächlich anders aufzuteilen ist eine sehr harte
Nuss im autodominierten Esslingen.“ Auf die Frage, ob Esslingen eine
Konfliktzone zwischen den Gegnern Auto und Fahrrad ist, antwortet Sie:
„Im Moment schon, aber es sollte nicht so sein“. Folglich möchte man bei
der Critical Mass in Esslingen bewusst nicht die Autofahrer
provozieren, sondern ein positives Bild vermitteln.
Nach
gut 13 Kilometern ist die Rundfahrt zu Ende, die 29 Fahrräder werden
neben der Bar fuenfbisneun im lokalen Kulturzentrum geparkt. Bei Bier
und Pizza wird die Tour rekapituliert und über die nächsten
verkehrspolitischen Projekte gesprochen.
Für die
Autofahrer ist die Störung vorbei, der Verkehr kann wieder ungebremst
fließen. Für die Fahrradfahrer ist der Kampf um die Konfliktzone Straße
vorerst beendet. Aber die beiden Gegner werden wieder aufeinandertreffen, spätestens am nächsten Dienstag im Berufsverkehr.
Mehr Infos zur Critical Mass in Esslingen gibt es hier, mehr Infos zur Critical Mass in Stuttgart gibt es hier.
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